Karlheinz Deschner, der sich herausnahm, Religionsgeschichte als
Kriminalgeschichte zu schreiben, brachte es doch kaum weiter als zur
Geschichte der – allerdings monströsen – Verfehlungen einer
welthistorischen Institution: der katholischen Kirche. Nicht im Traum
wäre es ihm eingefallen, den einfachen Kirchgänger für die
Machenschaften verblichener Kirchenfürsten und ihrer Helfershelfer
haftbar zu machen. Allenfalls wollte er ihm die Augen öffnen,
Aufklärung betreiben in jenem ältesten und unverfänglichsten Sinn,
der sich aus dem Wort allem Missbrauch zum Trotz nicht ganz
vertreiben lässt.
Noch weniger allerdings scheint Deschner der
Gedanke in den Sinn gekommen zu sein, ein ›Volk‹, das heißt
Millionen unterschiedlichster Menschen mit einerlei Pass und einer im
zarten Schulbuchalter stets aufs Neue verpassten Geschichte komme als
Träger eines sich von Generation zu Generation erneuernden
Unrechtsbewusstseins in Betracht. Gleichwohl wäre er vermutlich
nicht angestanden, ›die Deutschen‹ oder ›die Türken‹ oder
›die Spanier‹ oder ›die Engländer‹ oder wen auch immer mit
den Abgründen der eigenen Geschichte zu konfrontieren. Wer stolz
oder verwegen genug ist, sich und seinesgleichen eine Geschichte auf
den Leib zu schreiben, der muss es aushalten, dass die ganze
Geschichte auf den Tisch kommt – sei es, um den dummen Hochmut ein
wenig zu beugen, sei es, um das Wissen um die Opfer der Geschichte,
das heißt jener als Leitfossile apostrophierten und keineswegs
namenlosen Täterfiguren und ihrer zahllosen Mittäter dem gezielten
Vergessen zu entreißen, auf dass den Opfern wenigstens posthum ein
wenig Gerechtigkeit widerfahre und der eine oder andere überlebende
Täter seiner Strafe zugeführt werde, sei es, um der fatalen
Kontinuitäten der Geschichte an der einen oder anderen Stelle Herr
zu werden.
Wer so schreibt, der
kann nicht umhin zu glauben, es lasse sich auf diese Weise ein den
Machenschaften der Mächtigen gegenüber wacheres und wachsameres
Bewusstsein erzeugen – und über das so erzeugte Bewusstsein
vielleicht eine Welt, in der sie weniger sicher ihrem schier
unersättlichen Tatendrang folgen. So denkt, wer schreibt, jedenfalls
denkt, wer schreibt, so müssten auch jene denken, die er für
seinesgleichen hält, nicht, weil ein Pass sie auf einen Nenner
bringt, sondern weil sie schreiben. Vielleicht ist die Annahme ja
auch richtig, wenngleich schwer überprüfbar. Allerdings gerät, wer
schreibt, leicht in Fallen, die daraus resultieren, dass er in den
seltensten Fällen handelt, es sei denn symbolisch – wogegen
nichts spricht, solange er zwischen Handeln und Handeln zu
unterscheiden weiß.
Eine dieser Fallen
ist die des Moralisten, der sich an seinem Schreib-Schopf aus dem
Sumpf der allgemeinen Verfehlungen zieht: er gegen sie,
sie alle, die da gleichen Herkommens sind wie er, aber als
nichtschreibende Zeitgenossen sich nur durch Leugnen eigener
Mitschuld den Kollektivanschuldigungen zu entziehen wissen. Leugnen,
vor allem, wenn es ein persönlich
gutes Gewissen verrät, ist schlecht, es ist der Grundstoff
des Moralisierens, es nützt nur einem und das ist nicht der Leugner.
Bravsein ist besser und ein betroffenes Gesicht schadet nichts.
Nach diesem Motto verfahren bei Betrügereien ertappte Konzerne –
warum nicht ein Einzelner, der sich ebenso wenig entziehen kann, wenn
die Geschichte eines Großkollektivs, genannt ›Volk‹ oder
›Nation‹ oder ›Europa‹ oder ›der Westen‹ und mittlerweile
auch ›der Islam‹ auf seinem Rücken verhandelt wird, wie sich
sein Urgroßvater oder die Großtante seines Lebensmittelhändlers
dem Ruf des – keineswegs fiktiven – Staates entziehen konnte, als
es galt, millionenfach in Schützengräben zu krepieren oder als
lebende Phosphorfackel den patriotischen Phantasien von
Schreibtischstrategen ein wenig Stoff zuzuführen?
Dumm nur, dass
Bravsein dem Moralisten in den seltensten Fällen reicht. Vielmehr
saugt er aus ihm jenen Honig, der ihm nicht nur das Schreiben
versüßt, sondern auch das Leben. Denn in den seltensten Fällen
›weiß‹ das brave Bewusstsein, das geduldig erträgt, was über
es verhängt wurde, dass jene Kollektiv-Entitäten wie ›Volk‹,
›Nation‹ etc. nichts weiter als Fiktionen sind,
›Konstrukte‹, bestimmt, das dumme Volk bei der Stange zu halten
und ihm als Schicksal zu verkaufen, was unter Aufgeklärten nicht
mehr bedeutet als ein Fingerschnipsen der rechten Hand oder das »Ich
habs!« eines Spinners, der Probleme mit Frauen oder allgemein seiner
sexuellen Orientierung hat. Es weiß es nicht, es kann es weder
wissen noch glauben, weil es nicht seinem Empfinden entspricht, und
es würde es auch nicht glauben, wollte sich jemand unterstehen, es
ihm mehr oder minder ruppig beizubiegen.
Es weiß es nicht, aber
seine studierende Tochter und sein studierter Sohn, sie wissen es
wohl und niemand sage, den kühleren unter ihnen bereite es keine
sadistische Freude, die Alten im Netz der Identitäten zappeln zu
sehen und sie dazu als Rassisten oder Sexisten oder-was-auch-immer zu
titulieren, während man selbst eine Zeitlang glaubt, fein heraus zu
sein. Was den Jungen recht ist, das ist dem Moralisten billig. Es
kommt ihm nicht in den Sinn, in sich selbst den Rassisten oder
Sexisten zu sehen, der ein übles Spiel mit seinesgleichen spielt,
nur weil er unfähig ist, sich als seinesgleichen zu betrachten.
Nennen wir es die Unfähigkeit zur moralischen Reflexion, nennen wir
es, wie wir wollen: Wer sich etwas herausnimmt, der muss auch etwas
hineinlegen, wer sich herausnimmt, der nimmt sich selbst
etwas, dessen er im ganz normalen Leben bedarf, um zu überleben –
Seriosität. Es ist ein schäbiges Spiel und es erfreut seine
Spieler. Aber es tötet Gesellschaft.
Ja, das ist eben schade.
Das ist das riesig Fade.