Wann immer eine irreguläre Gewalttat oder eine Ballung endemischer
Gewalt Zutritt zum öffentlichen Bewusstsein erlangt, prallen die Sprache
der politischen Korrektheit und ihr Gegenbild, die öffentliche und
private Hass- oder Wutrede, aufeinander. Zweifellos handelt es sich um
ein Ritual, dessen wenig geheime Bedeutung darin besteht, ›das
Schlimmste‹ zu verhüten: das Überspringen der Gewalt in die allgemeine
Praxis oder in eine ›neue Dimension‹, wie es euphemisierend bei den
Verantwortlichen heißt.
Political correctness und hate speech:
begriffslogisch handelt es sich um korrelative Begriffe, einst geprägt,
um einer linksliberalen Politikauffassung das Navigieren in einem von
sozialer Ungleichheit und ideologischer Borniertheit geprägten Umfeld zu
erleichtern. Das ist lange her. Heute gehören sie zum Schmäh-Vokabular
einer entgleisenden Debattenkultur, in der die Erregung konsequent das
Argument dominiert. In ihrem strikten Wechselbezug sind sie Varianten
der Stereotypen-Rede, deren Muster und Wirkungsmechanismen
jahrzehntelang systematisch erforscht wurden, ohne dass die Ergebnisse
dieser Arbeit sich jemals auf die öffentliche Sprechtätigkeit ausgewirkt
hätten. Sicher liegt das auch an der Vielzahl von Studien, in denen
Stereotype vorrangig mit Vorurteilen, Hass und struktureller Gewalt in
Verbindung gebracht werden. Wissenschaft schützt nicht vor
Parteilichkeit: Stereotype sind stets die der Anderen.
Etwas daran ist zweifellos wichtig – und richtig. Schließlich dienen
Stereotype der Abgrenzung vom jeweils Anderen, die mittelbar in
Kontrolle übergeht. Wer einmal ins Schema fällt, kann identifiziert,
isoliert und auf Distanz gebracht werden. Das lässt sich verbal oder dinglich
ins Werk setzen: durch klassifizierende Herabwürdigung, durch physische
und psychische Demütigung, Bestrafung, Missachtung, durch sozialen Tod,
durch manifeste Ausgliederung wie Haft, Abschiebung, Ghettoisierung,
schließlich durch Proskription und Markierung im Hinblick auf künftige
Auseinandersetzungen. Wer den Gegner kontrolliert, kontrolliert in der
Regel auch die eigenen Leute, soll heißen, er schreibt ihnen vor, welche
Empfindungen, Bilder und Worte ihnen einfallen, sobald sie über ihr
Gruppen-Wir zu kommunizieren beginnen.
So weit, so bekannt. Weniger bekannt scheint zu sein, dass die
Aufrechterhaltung von Ordnung, sofern sie, von normaler Polizeiarbeit
abgesehen, allein oder überwiegend mit Hilfe von Stereotypen
gelingt, allen Bedenken zum Trotz den milderen Regimen zugerechnet
werden muss. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Stereotype, hinter
denen keine unmittelbare Gewalt droht, sich in der Praxis nicht
ungebremst durchsetzen lassen. Sie werden, je nach den Erfordernissen
des Alltags, zurechtgeschliffen, interpretiert, beiseitegeschoben,
gelegentlich ins Gegenteil verkehrt, ohne dass es dazu einer förmlichen
Aufhebung bedürfte. Und sie müssen sich der Konkurrenz der Argumente
stellen, wann immer die konkrete Situation es erforderlich macht.
Natürlich weiß das die Mehrheit. Doch der Doppelcharakter der Hassrede
treibt die Parteien unweigerlich gegeneinander und verschließt die
Einsicht in das, was als spontane Einsicht dem Spiel der Stereotype
zugrunde liegt. Diese Einsicht ließe sich folgendermaßen zusammenfassen:
Erst das Gruppengefühl lässt den Einzelnen über sich hinauswachsen und
verleiht ihm die Stärke, die zur Bewältigung größerer Daseinsprobleme
vonnöten ist. Die Gruppe wiederum ist stärker als jedes Hindernis auf
dem Weg zum besseren Leben – und sei es der Tod. Der ›Kampf‹ der Gruppe –
nicht ums Dasein, sondern für eine angenehmere, bedürfnisoffenere,
bedarfsgerechtere, selbst-gerechtere Welt – eröffnet das ›bessere‹
Leben, dessen bedeutendster Teil im Hochgefühl liegt. Stereotype sind,
anthropologisch gesehen, Kodifikationen dieses Hochgefühls.
Der Primat des Sozialen kommt nicht von ungefähr. Gleichgültig, ob
man seinen Ursprung in der Jagdgemeinschaft und den räuberischen
Instinkten der Kleingruppe, in prototypischen familiären Bindungen oder
in den Notwendigkeiten der Arbeitsteilung, in den hierarchischen
Strukturen von Großorganisationen oder in der Angst des Einzelnen vor
dem Unbekannten verankert sieht – das Ergebnis bleibt immer dasselbe. Gemeinsam sind wir stärker.
Dieser Satz ist vielleicht die erste und mächtigste aller Stereotypen.
Gewiss liegt er allen anderen zugrunde. Man versteht wenig oder nichts
von Religionen, wenn man sie als einen Mix aus überkommenen
Glaubenssätzen und archaischen Praktiken ansieht, die
unbegreiflicherweise und zum Schaden ihrer Anhänger der Erosion durch
neue Erkenntnisse und vor allem durch die Zeit selbst trotzen. Während
zum Beispiel der Nationalstaat mit seiner bekannten Tendenz, sich
Religionen gefügig zu machen, auf ein Territorium und eine gemeinsame
Geschichte angewiesen ist, um zu überleben und sich zu behaupten,
genügt den Frommen die Ursprungsrede, der gemeinsame ›Quell‹ ihrer
Überzeugungen, um zueinander zu finden und ›stark zu sein‹ – auf welchem
Boden auch immer. Wer daraus schließen will, dass Religionen stärker
sind als Nationen oder postnationale Standards, möge das tun. Auf Zeit
gesehen – wie sonst? – handelt es sich wohl eher um ein totes Rennen,
bei dem ›am Ende‹ alle wieder miteinander auskommen müssen. Was die
Ewigkeit angeht – nun...
Immer wieder zeitigt der Primat des Sozialen groteske, entsetzliche
und tragische Ergebnisse. Die liberalen Gesellschaften sind gewarnt: zu
seinen schauerlichsten Hervorbringungen zählt der Sündenbock, die
erbliche Fratze aller ›Kultur‹, und mit ihm der Pogrom. Doch es gibt
weitere – bis hin zum kulturell verhängten Selbstmord einer Gruppe oder
ganzer Populationen. Ein zu bedenkendes Beispiel wären Gesellschaften,
die zerfallen und sogar absterben, sobald Ressourcen versiegen, auf
deren Ausbeutung ihr Selbstbild oder das einer ihrer führenden Schichten
beruht. Es marschiert sich leichter in den Ruin als in die Namen- und
Gesichtslosigkeit. Apropos: zur Gesichtslosigkeit zählt auch die
Geschichtslosigkeit. Es ist stets nur ein kleiner Teil einer
Gesellschaft, der über wirkliche Geschichtskenntnisse verfügt. Der Rest
fügt sich den Stereotypen und verstaut darin, was man ihm beigebracht
hat. Die stereotype Geschichte bändigt die Gesellschaft in der Mitte und
lässt sie an den Rändern ausbrechen. Das Spiel der Stereotype führt
sich selbst die Opfer (und Helden) zu, die es zu seinem Überleben
benötigt.
Es besteht kein Grund, sich über die Anderen zu erheben.
(Erstmals: Globkult, 11. Juli 2016)