Die Kunst hat in den heutigen Krisen nichts zu sagen, sie darf
aber apportieren. Das menschliche Leid hat insistierendere Sachwalter
bekommen, die argwöhnisch jeden Versuch beäugen, ihre Kompetenz zu
beschneiden. Der Produktion von Leid hat es nicht geschadet, im
Gegenteil: diese Ressource sprudelt so reichlich wie eh und je und
wer immer sich an ihr bedienen möchte, darf damit rechnen, dass
irgendwo ein Fond bereitsteht (oder bereitgestellt wird), auf den
sich zugreifen lässt, vorausgesetzt, man ist gut vernetzt und die
Parameter (sprich: die involvierten Interessen) stimmen. Kein
Zweifel: hier ist viel Idealismus im Spiel, dessen Kehrseite, wie
immer, die Betroffenen früher oder später erfahren, wobei Zahl und
Klasse der Opfer stark variieren. Auch Hilfe kann Verhältnisse
schaffen oder zementieren helfen, gegen deren Auswirkungen sie sich
wendet: zwischen Hilfe und Abhilfe klafft ein ähnlicher Abstand wie
der zwischen gut gemeint und gut gedacht. Dabei
ist vom
Abgrund zwischen Reden und Handeln, Handeln und Behandeltwerden,
Handeln und Misshandeln, Praxis und Praktiken, Hilfe
und Heuchelei, Beistand und Betrug, selbstloser
Assistenz und lautloser Vorteilsbeschaffung noch nicht einmal
die Rede. Sobald irgendwo in der Welt der Mächtigen von
aufzulegenden Hilfsprogrammen gesprochen wird, um einer Regierung
Luft zu verschaffen, macht sich die Korruptionsforschung bereit –
sie kennt ihre Pappenheimer. Das
alles wurde tausendmal an einschlägigen Fällen bedacht und beredet,
die – wenigstens
oberflächliche – Kenntnis der Mechanismen gehört zum
zivilisatorischen Grundbestand. Wer hier leugnet, der leugnet aus
Gründen, sei es der Psyche, sei es des Profils. Doch besitzt
der Idealismus nicht nur eine Kehrseite, sondern auch, sagen wir,
eine Stirn. Recht so, könnte man meinen, wer dem Unheil steuern
will, der muss ihm zu allererst die Stirn bieten. Kraft, hinter der
ein Verstand steht, ist eine kostbare Erscheinung in dieser Welt, vor
allem, weil man den Verstand nicht so leicht zu Gesicht bekommt,
daher muss die Stirn, als pars pro toto, nicht selten für ihn
einstehen, ohne mit den benötigten Mitteln versehen zu sein.
Was man bei Menschen mutmaßen muss, das lässt sich gelegentlich
an Gebäuden ablesen wie z.B. der Dresdner Semper-Oper, deren
Betreiber gegenwärtig die Klassiker fleddern, um Zeichen gegen
Fremdenfeindlichkeit zu setzen. Ein Unterfangen, das vor allem
geeignet erscheint, Fremde zu erschrecken, die sich, nicht ganz zu
Unrecht, im Vorüberschlendern angesichts des digitalen
Zitatgewitters zwangsläufig fragen müssen, was von einem Land wohl
zu halten ist, zu dessen Willkommenskultur es gehört, seine Bürger
öffentlich anzusäuseln, sie sollten, sobald Ausländer anwesend
sind, doch gefälligst die Füße vom Tisch nehmen und sich halbwegs
zivilisiert verhalten – bei Zuwiderhandlung droht das
Auswendiglernen einer Figaro-Arie plus Donizetti-Karzer. Unter
uns Operngängern, ganz im Ernst: Will man partout demonstrieren, wie
eigentümlich schlicht manche ererbten Klassiker-Sentenzen wirken, sobald man
sie den Unbilden der umgebenden Wirklichkeit aussetzt? Will man, wie
schon häufiger in der Vergangenheit (und immer vergeblich), sich
endlich jene robuste Klientel erschließen, die zwischen
Bühnenhandlung und outdoor-Auseinandersetzung nicht zu
unterscheiden vermag? Will man überhaupt etwas oder fügt man sich
einem verborgenen Impuls, der stets das Gute will und sich im Schmuck
innerstädtischer Parolen klammheimlich der alten Zeiten erinnert?
Wie dem auch sei, der Gesellschaft erweist man keinen Gefallen, gibt
man ihr in dieser bescheidenen Form zu verstehen, wie überflüssig
der gesangliche Aufwand im Innern des Musentempels eigentlich ist, da
sich die Quintessenz offenbar so bequem außen anschreiben lässt.
Denn die Gesellschaft, gut oder ungut, weiß es längst und ihre
Kulturfeindschaft erhält nur immer neue Nahrung, wenn sie, ohne
weiter in die Sache involviert zu sein, mit ansehen muss, wie die
›Verschwendung von Steuergeldern‹ mit der Verschwendung von guten
Worten erkauft wird.
Immerhin bleibt, was die Dresdner Regie
hier treibt, Oper – oder, zurückhaltender interpretiert,
Straßentheater, bei dem niemand weiß, welche Pointe am Ende sitzt
(oder nachsitzen wird). Nimmt man die in Sichtweite bei
Pegida gehaltenen Reden als den anderen Teil hinzu,
dann bleibt von der alten Idee der Kunst als ›Einspruch‹ nicht
viel zurück. Jenseits aller Parolen hat sich der Bürgerprotest die
Straßen und Plätze der Republik erobert und attackiert von ihnen
aus die Herzen und Hirne der Mitmenschen. In dieser Hinsicht besteht
zwischen Stuttgart gestern und Dresden heute kein Unterschied. Was
die subventionierte Kunst angeht, so hockt sie als Krähe, die der
anderen kein Auge aushackt, am First und ringt um Wahrnehmung. Die
wird sie nicht bekommen, solange sie nicht die eigene schärft.
Vielleicht müssen sie Karl Kraus in Dresden erst singen lernen, um
zu begreifen, was eine panisch gewordene Politik, der, bei Strafe der
Folgekosten, die europäischen Partner abhanden gekommen sind, gerade
erfährt: Wer die Berichte beherrscht, kümmert sich selten um die
Erstattung. Das gilt in vielerlei Hinsicht, vor allem aber in
unterschiedliche Richtungen. Wahrheit ist keine Einbahnstraße.