Zu den Narrenwörtern des Westens gehört das Wort ›selbsternannt‹.
Ein Attentäter, dessen Umfeld als ›clean‹ gilt – gleichgültig,
ob er oder seine Komplizen oder seine Hintermänner etwaige Spuren
sorgfältig getilgt haben, ob die Ermittlungsbehörden es aus Gründen
der Staatsräson unterließen, die Öffentlichkeit über die wahren
Zusammenhänge ins Bild zu setzen oder ob es sich in
der Tat um einen jener legendären einsamen Wölfe handelt,
deren Wolfseigenschaft sich abseits vom Rudel Bahn bricht –, ein
solcher Einzeltäter muss über kurz oder lang damit rechnen, als
selbsternannter Terrorist durch die Medien zu geistern,
vermutlich, damit irgendeine Form der Ernennung greift, bevor über
die Sache Gras wächst, und die Erwartung kommender Anschläge nicht
das allgemeine Lebensgefühl eintrübt.
Gegen Selbsternannte, so die
Legende, ist kein Kraut gewachsen. Man muss sie hinnehmen wie das
nächste Gewitter: Singt, lacht und postet weiter.
Tut so, als sei nichts gewesen. Das seid ihr den Getöteten schuldig.
Allenfalls darf man Klage darüber führen, dass in jeder
Gesellschaft eine ausreichende Zahl von drop-outs existiert,
die immer wieder für Nachschub sorgen.
Doch kommen sie
nicht nur vom unteren Rand der Gesellschaft. Genauer gesagt: Sie
kommen von überall, wie das kurrente Beispiel eines zwar gewählten,
gleichwohl ›selbsternannten‹,
da autoritär regierenden Präsidenten belegt. Offenbar lautet
ihr Motto ›Anything goes‹.
Das ist vielen ein Dorn im Auge, vor allem in den
öffentlich-rechtlichen Medien, die aus begreiflichen Gründen vor
jeder Art von Selbsternennung zurückbeben, als werde sie unmittelbar
mit Sendeverbot geahndet. Und zweifellos stellt jeder unabhängige
›Sender‹ von Nachrichten oder Meinungen für die
öffentlich-rechtlichen und ihren ehrbaren Anhang eine
Herausforderung dar. Darf man das? Darf man es wirklich?
Und falls man es darf: Gilt dann auch, was hier, vermutlich
ausnahmsweise, gedurft wurde?
Als Auslöser dieser Ängste
›gilt‹, wie bekannt, das Internet, dessen ›soziale Medien‹
die alten Mono- und Oligopole des Meinens und Dafürhaltens das
Fürchten und die Bequemlichkeit lehrten. Was tun, wenn die
Sendung eines ›Primärmediums‹ kaum mehr bietet als den sekundären Aufguss dessen, was genauer und
›authentischer‹ bereits via Twitter zu lesen war? Gewiss, man könnte
sich bedanken, aber so einfach liegen die Dinge nicht. Was, wenn auf
den Seiten von Facebook etwas ›auftaucht‹, eine neue Realität,
über die man dann – im ›wirklichen Medium‹ – zu berichten
genötigt ist? Damit muss man rechnen. Wie rechnet man mit etwas, das
unnachsichtig die eigene Marktposition aushöhlt, die eigene Arbeit
gnadenlos deklassiert? Wie geht man mit einer Wirklichkeit um, die
sich nicht wirklich um die Kanäle schert, auf denen sie einst
zertifiziert wurde? Nun, man verwandelt sie in ein Format, ein
irgendwie illegitimes, vor dem der Empfängerseite ein vernünftiges
Grauen eingepflanzt wird: das Codewort für dieses Grauen lautet
›selbsternannt‹.
Das funktioniert, es
funktioniert eine Weile, aber es funktioniert nicht immer.
Der Islamische Staat
(IS) – auch er ein ›selbsternannter‹ – fordert Muslime in
aller Welt auf, ihrer Glaubenspflicht nachzukommen und für die Sache
des Islam zu töten. Das verstört, neben Nichtmuslimen und religiös
Gleichgültigen, auch die Masse frommer Muslime, die ihre
Glaubenspflicht keineswegs darin zu erblicken bereit sind, als Mörder
und Selbstmörder zu enden und deshalb gewärtig sein müssen,
irgendwann selbst unter die Opfer zu fallen. Viele macht es anfällig
für allerlei Gedankengut, für Hintergedanken, die sie und ihre
Position in der Welt betreffen, für Heuchelei und Hass, für
prahlerische Bekenntnisse, für Duckmäusertum, und – hier und da –
radikale Entschlüsse. In der Diktion der Dschihadisten ist
›Islam‹ kein historisch gewordenes, entfaltetes, in sich ruhendes
Glaubenssystem, sondern ein Zauberwort, mit dessen Hilfe sie Täter
rekrutieren – Menschen, bereit, aus Gehorsam Handlungen zu
begehen, die durch keine traditionell-religiöse Moral gedeckt werden –, eine Gefolgschaft einfordernde und Wunscherfüllung vorgaukelnde
Vokabel, mit der sie revolutionäre Machtphantasien auf ein riesiges
Menschenpotenzial und die dazugehörigen geographischen Räume
projizieren. Der Rest ist Strategie, gelegentlich auch Taktik. Wer
darin eine besonders raffinierte Pointe der umfassenden
Virtualisierung der Welt mit dem Effekt der ›Selbsternennung‹ zu
erblicken wünscht, der möge dies tun – eigentümlich sinnfrei,
auf eigene Rechnung und Gefahr.
Die Frage, wie labil
Persönlichkeiten sein müssen, um als ›Einzeltäter‹ dieser
Couleur in Betracht zu kommen, berührt sich mit der hier und da
geäußerten Ansicht, es handle sich um sozial depravierte Menschen,
denen, ähnlich dem Amokläufer, der verbrämte Selbstmord einen
Abgang ›in Würde‹ verschaffe. Das mag im Einzelfall zutreffen
oder nicht. Doch auch hier gilt: ein religiöses System, in dem durch
wahllosen Massenmord Würde zu erlangen wäre, existiert nicht
auf diesem Planeten. Allerdings muss einer schon die religiöse und
menschliche Hohlheit des Appells durchschauen, um nicht als
Gläubiger durch ihn infiziert und innerlich in Bedrängnis gebracht
zu werden. Hier liegt die unheimliche Macht dieses wie jedes
Radikalismus. Seine ideale Zielgruppe sind die Jungen, die
Unbedarften, die Kämpfernaturen, die leicht Entflamm- und
Verführbaren, die Tat-Träumer und hyperaktiven Weltveränderer,
Personengruppen, auf denen alle Hoffnung der Welt ruht – und aller
Abscheu, wenn es dann wieder zu spät ist. Wer sie an der Hand nimmt
und zu welchem Ende: c’est la
question.