Zur Ökonomie der Illusion


Die Ökonomien der Illusion und des Vergessens sind eins.

Donnerstag, 18. Februar 2016

Die Prozente sind frei

Im Himmel der Gutgläubigen sind noch Plätze frei. Das ist keine Aufforderung, sie unzeitig einzunehmen, aber ins Grübeln darf man schon kommen. Ein Land, in dem einundachtzig Prozent der zur Bevölkerung hochgerechneten ›Befragten‹ meinen, die Regierung habe die Situation nicht mehr unter Kontrolle, während ganze vierzig Prozent einen Wechsel an der Spitze wünschen, hätte man gern näher kennengelernt, schon um zu verstehen, was in ihm vorgeht. Einundachtzig Prozent sind, unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie, keineswegs ›Ausdruck einer gespaltenen Volksmeinung‹, sie sind auch keine ›Anomalie‹, deren Verschwinden man abwarten könnte wie das Ende eines unzeitigen Frosteinbruchs – ehrlich gesagt, sie lassen sich kaum noch politisch verstehen. Gerade das lässt sie eminent politisch erscheinen: einer pointiert unironischen Deutung des ›gemeinen Wesens‹ wären sie Ausdruck eines existenziell zu nennenden Aufbegehrens, auf den es in der Demokratie, gemäß dem ihr eigenen Ethos, nur eine Antwort geben dürfte – den, wie auch immer, parlamentarisch eingefädelten Rücktritt.
Gefehlt. Der demoskopisch freigelegte Spielraum von sechzig Prozent der Bevölkerung, unter denen die meisten zwar die Politik für verfehlt halten, aber die Person, die mit ganz eigenem Nachdruck dafür steht, weiterhin im Amt sehen möchten, ermuntert zum Weiterregieren, man könnte ihn als Meinungs-Mehrheitspolster bezeichnen, handelte es sich nicht ohnehin nur um ein Stimmungsbild, dem andere, womöglich bizarrere, folgen werden. Die Mehrheit der befragten Bevölkerung pflegt also entweder ein monarchisches oder ein zynisches Verständnis der Staatsmacht oder sie hat sich definitiv am Quell der Weisheit niedergelassen, die besagt, dass alles eitel sei und das Eitelste unter allem der freie Wille.
Wie auch immer: der lange Abschied vom ›demos‹ als Herzstück der Demokratie schafft sich in derlei Umfragen ein ganz eigenes Monument. Soll man es die Unfähigkeit der Regierten nennen, ihre Aufgabe im demokratischen System zu begreifen, soll man es als einen der üblich gewordenen Pyrrhus-Siege der politischen Klasse wider den drohend an die Wand gemalten ›Populismus‹ hinnehmen – der Zeitpunkt wird kommen, zu dem man die heute auf den Nägeln brennende Krise eher als historische Reminiszenz, den großen Rollenwechsel bei äußerlich unveränderten Institutionen hingegen als den entscheidenden Prozess dieser Jahre betrachten wird. Demokratie ist keine volkspädagogische Veranstaltung, bei der die gewählten Animateure die Leute zum Mitmachen anhalten, um sie im entscheidenden Augenblick nach Hause zu schicken, weil ohnehin alles komplizierter ist, als sie es sich ausmalen können. Apropos ausmalen: geführt wird ein Land von denen, die sich darauf verstehen, seine Phantasie zu bevölkern. Dass ein Rücktritt, der ›an der Zeit‹ ist, nicht erfolgt, dass er in den ›herrschenden Kreisen‹, zu denen offenbar auch ein Teil der Opposition gehört, auf erstaunlich kühle Weise nicht in Erwägung gezogen wird, lässt auf Reserven schließen, die dem einfachen Bürger nicht unbedingt zur Verfügung stehen. Es sei denn... – es sei denn, die 19 Prozent haben den Schlüssel zur Partizipation gefunden und der Rest der Bevölkerung weigert sich nur beharrlich, ihn abzuholen. Chapeau!
Da wäre sie also, die Rede vom ›Rest‹, die den Philosophen Agamben vor Jahren zu eschatologischen Spielereien verleitete. Nein, diesmal sind es nicht die displaced persons und die Ärmsten der Armen: materiell nicht und nicht mental. Eher bedarf es einer gewissen Saturiertheit, um sein privates »Geht in Ordnung!« in den öffentlichen Tumult hinauszuposaunen. Beeindruckender wirkte die Aufführung allerdings, liefe nicht immer das vertraute »Was geht’s mich an!« als Begleitstimme nebenher. Ja sicher, was geht es die Leute im Lande eigentlich an, wenn ihre Regierung beschlossen hat, energisch an Volkes Meinung vorbei zu regieren? Nun, nichts: nichts, wenn es sie schon längst nichts mehr angeht, wie sie regiert werden, weil sie sich nicht mehr als Teil des Spiels begreifen, nichts, wenn ihnen das Einverstandensein über die Zustimmung geht, das »Ist schon recht!« über die Prozeduren, alles, wenn dabei ihre geliebte Lebensweise über kurz oder lang in Mitleidenschaft gezogen wird und sie das wachsende Unruhepotenzial am eigenen Leibe erfahren – vielleicht ja auch erst ihre Kinder oder, da Kinderlosigkeit einen politischen Status besitzt, der Nachwuchs.