Zur Ökonomie der Illusion


Die Ökonomien der Illusion und des Vergessens sind eins.

Freitag, 29. Juli 2016

Neues Europa oder: Rette sich, wer kann

Blickt man auf die Gesellschaft der Nationen, dann fällt auf, dass sich auch unter ihnen Moralisten der gehobenen und der gesenkten Braue finden, Moralisten von Geburt und solche, die ihre Lektion gelernt zu haben beteuern. Kein Zweifel, sie ergänzen einander, sie kommen voneinander nicht los, sie haben einander unendlich viel zu sagen – ins Gesicht, aber auch sonst, hintenherum, wenn einer Partei etwas stinkt oder der Einzelne besser schweigt. In solchen Fällen tritt das Kollektiv in Aktion, die üblichen Sender senden, die fleißigen Finger der Nation tasten das Feld der gängigen Überheblichkeiten ab, die kritischen Federn federn ins intellektuelle Abseits, die Helden des Geistes… Parlamente, getragen von historisch-geläutertem Hochgefühl, beschließen Resolutionen, die aus der Empörung der anderen Seite bereits Kapital schlagen, bevor sie Gelegenheit hatte, sich erkenntlich zu zeigen, Leitfiguren der Unterhaltungsbranche bekommen plötzlich Meinungen wie andere Leute Brechdurchfall und der eine oder andere zur Hälfte abgehalfterte Volksheld erhebt seine Stimme, als kehre er in den Kreis der Gemeinten zurück.

Mittwoch, 27. Juli 2016

Das Schweigen der Kassandren

Kassandra darf schweigen. Ihre Voraussagen haben sich rascher erfüllt, als sie selbst es für wahrscheinlich gehalten hätte.
Wovor sie warnen könnte, es ist Realität.
Ein Krieg, der keiner sein darf? – Alltag.
Dschihad auf europäischem Boden? – Alltag.
Ethnokulturell fundierte Gewalt auf europäischem Boden? – Alltag.
Gewaltbereiter Fremdenhass beiderseits der Demarkationslinie, die ›Fremde‹ und ›Einheimische‹ voneinander trennt? – Alltag.
Gespaltene Gesellschaften, zwischen deren Fraktionen das Denunziationsgebot herrscht? – Alltag.
Gesinnungs-Konformismus, der jedem freien Gedanken ins Gesicht schlägt? – Alltag.
Ein ›verantwortlicher‹ Journalismus, dessen oberste Mitteilungsregel lautet: Nichts gegen den Augenschein, alles gegen den Augenschein? – Alltag.
Ein mürrischer Staat, der Wohlverhalten anmahnt und für den Notfall rüstet? – Alltag.
Eine zerfallende Union, die nach dem Motto handelt: »Rette sich, wer kann!«  – Alltag.
Ein Karussell der Schuldzuweisungen, das sich von Anschlag zu Anschlag verheerender weiterdreht? – Alltag.

Die Realität bedarf Kassandras nicht mehr. Sie mit dem Spruch »Hab ich’s nicht gesagt?« hausieren gehen zu sehen, ist schwer erträglich. Was immer geschieht, es hat, jedenfalls fürs erste, seine Partei gefunden. Es ist dort angekommen, wohin es von Anfang an gehörte: im Parteienspektrum, wenngleich nicht im Parteienstreit. Das ist einerseits schlecht, denn es beraubt die Bürger des einzigen konstruktiven Mittels, Staat zu machen. Es ist andererseits gut, weil ihr Urteil gefragt ist: Sie müssen begreifen, wer wo welche Diskussionen – und damit Entscheidungen – blockiert.
Das Karussell der Bezichtigungen dreht sich leer: in ihm haben alle ›Recht‹. Welches Recht? Das Recht jeder Partei auf die halbe Wahrheit – nicht mehr, nicht weniger.
Eine Situation, in der die halben Wahrheiten ausgedient haben, signalisiert nicht das Ende der Parteiendemokratie, sondern ihren Neuanfang.
Wer zur nächsten Wahl geht, um sein Kreuz dort zu machen, wo er es immer machte, weil er es immer dort machte, ist schon kein Demokrat mehr (falls er es jemals war).
Ein Partei-Establishment, das auf ihn vertraut, hat die Situation nicht verstanden und die Situation holt es ein.
Ideologisch erstarrte, unflexible, realitätsleugnende Parteien verlieren den Rückhalt in der Bevölkerung und marginalisieren sich selbst.
Es ist Leichtsinn zu glauben, in kritischen Lagen stehe die Demokratie auf dem Prüfstand. In der Krise stehen die Parteien auf dem Prüfstand.
Nicht Wähler müssen sich rechtfertigen, sondern Parteien.
Nicht Wähler haben ›schlüssige Antworten‹ zu geben, sondern Parteien.
Nicht Wähler haben sich (nach Parteiwunsch) neu zu sortieren, sondern, sobald die Realität es erfordert, Parteien.
Das Recht jeder Partei auf die halbe Wahrheit endet dort, wo die andere Hälfte von allen ungesagt bleibt oder – unter der Flagge der Rechtgläubigkeit – als Abfall deklariert wird. Ein Parteienspektrum, das nicht die Wirklichkeit abdeckt, paralysiert den Wählerwillen an der heikelsten Stelle: im Entstehensprozess. Allerdings täuscht sich doppelt, wer denkt, hier ende die Demokratie und es beginne etwas anderes – eine andere Staatsform vielleicht oder ein anderes Regime. So leicht geht das nicht.
Erstens: Die ›etablierten‹ Parteien besitzen den Staat auch dann nicht, wenn sie seine Funktionen unter sich aufgeteilt haben. Gerade dann nicht, müsste man sagen, weil sie sich dadurch die demokratische Legitimation entziehen.
Zweitens: Demokratische Delegitimation kann schon deshalb nicht folgenlos bleiben, weil sie sich dort, wo sie eintritt, als wirklicher Prozess in der politischen Arena vollzieht und nicht nur als Gegenstand in den Kommentaren kritischer Zeitgenossen existiert. Es wäre ein Denkfehler zu glauben, der Demos diffundierte allein deswegen aus einem politischen System, weil ein Parteienoligopol ihm tendenziell die Wahlmöglichkeiten entzieht.

Der Demos denkt nicht daran zu verschwinden, vorzugsweise deshalb, weil er überhaupt nicht denkt. Wäre es anders, es gäbe kein Argument gegen die direkte Demokratie. Das Kernstück der parlamentarischen Demokratie ist die Repräsentation. Es wäre ein Gebot politischen Überlebenswillens, sie unter den gegebenen Verhältnissen einmal mehr zu durchdenken. Keine demokratische Instanz ist befugt oder ohne Selbstwiderspruch imstande, sie aufzuheben und in ein formales Gefolgschaftsverhältnis zu verwandeln. Ein solches Verhältnis, sollte es, mangels Wähler-Interesse und aus Parteien-Gleichgültigkeit gegenüber der ›Masse der Wähler‹, einmal eintreten, müsste von Grund auf korrupt sein, soll heißen, es würde durch Gesinnungsterror erzwungen (nach Beispielen wäre nicht lang zu suchen) oder durch ein Maß an Klientelismus erkauft, das sich mit den Interessen des Gemeinwesens nicht lange vermitteln lässt. Man hat Parteien innerhalb weniger Jahre aus den Parlamenten verschwinden sehen, die sich an letzterer Stelle überhoben. Schon deshalb wirkt die Gelassenheit, mit der die etablierten Parteien in Deutschland ihren demoskopischen Tiefständen trotzen, so, sagen wir … deplatziert.
Der Demos denkt nicht, er sieht – und wählt. Vielleicht ist dies seine umfassendste Definition: Er ist das Wahlvolk.

Tipp für Aufgeschlossene: Fürchtet nicht die Rufe der Kassandren.
Fürchtet ihr Schweigen.

Mittwoch, 20. Juli 2016

Die Gefahr / Das Mandat

Die Gefahr

Nach dem ersten Attentat besteht die Aufgabe darin, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Nach dem zweiten Attentat geht es darum, die voreiligen Schlüsse zu revidieren.
Nach dem zehnten Attentat geht es darum, die Zahl der möglichen Täter einzuschränken.
Nach dem hundertsten Attentat geht es darum, keine weiteren Attentate zu dulden.
Nach dem hundertersten Attentat geht es darum, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

Woher kamen die Täter?
Wer hat sie hergebracht?
Vor wem sind sie weggerannt?
Wer hat sie losgeschickt?
Wer bezahlt ihre Waffen?
Wer gibt ihnen Anweisungen?
Wer betreut die Hinterbliebenen?
Wer ist dieser Niemand und
wo schlägt sein Herz?
Für wen arbeitet sein Verstand?

Vor dem ersten Attentat bestand die Aufgabe darin, Kämpfer auszubilden.
Vor dem zweiten Attentat bestand die Aufgabe darin, Länder zu erobern.
Vor dem zehnten Attentat bestand die Aufgabe darin, den Kampf auszuweiten.
Vor dem hundertsten Attentat bestand die Aufgabe darin, den Bevölkerungen die Flucht zu ermöglichen.
Vor dem hundertersten Attentat bestand die Aufgabe darin, die Geflohenen in ihre zerbombten Länder zurückzuschicken.

Vor dem hundertzehnten Attentat erweist sich die Gefahr, die Aufgabe zu verfehlen, als groß.


Das Mandat

Die Abgeordnete findet kein Wort für die Schlachtopfer.
Die Abgeordnete will keine Schlüsse ziehen.
Die Abgeordnete findet Schlüsse gefährlich.
Die Abgeordnete findet, die Tätergruppe sei in Gefahr.
Die Abgeordnete ist für das Leben zuständig, nicht für den Tod.
Die Abgeordnete ist grün, weil sie will, dass das Meer blau ist.
Das Meer färbt sich rot.


Dienstag, 19. Juli 2016

Zeit des Deliriums

Die Türkei geht uns nahe. Wer diesen Satz angemessen erläutern könnte, mit allen Vorder- und Nachsätzen, er würde Erhellendes zur Deutschen Pathologie beisteuern, die, effektiver als die Regierenden, das Land im Griff hat. Nicht das Schicksal der Türkei geht ›uns‹ nahe, auch nicht die Leute, nicht das Land an sich – was dann? Man könnte meinen, es seien die Millionen Türken und Deutsche türkischer Herkunft (mit türkischem Pass), die unübersehbar in die Mitte der Gesellschaft und – noch vereinzelt – in ihre höheren Ränge vorrücken. Aber gerade sie haben die Türkei verlassen, aus Gründen, über die niemand zu rechten hat. Und diejenigen unter ihnen, die im ›Aufnahmeland‹ nicht recht Fuß fassen konnten, ›identifizieren‹ sich vielleicht mit den Verhältnissen in der Türkei, weil im Hintergrund der türkische Sender läuft und die Familienbande nach wie vor intakt sind – nahe geht den Deutschen, Migrationshintergrund hin oder her, das alles nicht.
Das Ganze ist, unter Liebhabern deutsch-türkischer Geschichte, keine Frage von Identifikation oder Ablehnung, von geheimer oder offener Seelenverwandtschaft, sondern Ausdruck einer paradoxen kulturellen Verschränkung. Sie ist unlösbar mit der Idee Europa verbunden – einer Idee, älter als die Konzeptionen des politisch vereinten Europa, der EU oder der westlichen Werte-Gemeinschaft. Diese Idee Europa ist innerhalb der deutschen Tradition untrennbar mit dem Begriff der ›Bildung‹ verbunden, einem nicht-exklusiven Blick auf Kulturen, dem die paradoxe Aufgabe zufiel, letztere aus ihrem Mittelpunkt zu verstehen und gleichzeitig in ihnen allen das ›Humanum‹, die gemeinsame menschliche Substanz am Werk zu sehen – ein Gedanke, dem die Hegelsche Dialektik auf dem welthistorischen Fuß folgt. Dieser nicht-missionarische, nicht-kolonialistische Blick auf die außereuropäischen Kulturen traf in der Türkei auf den fremden Freund: islamgläubig, jahrhundertelang als Bedrohung des christlichen Abendlandes verketzert, als Hüter der dritten monotheistischen Buchreligion von Aufklärern wie Lessing zum Widerlager eines ›vernünftigen‹ Religionsverständnisses erkoren, asiatisch, aber als Eroberer und damit nolens volens Erbe des alten Konstantinopel eine europäische Macht, despotisch, aber eben deshalb in einem versteckten Bunde mit den Mächten der Heiligen Allianz und dem wieder erneuerten Kaisertum, denen das religiöse Fundament des Staates ebenso unverzichtbar erschien wie der Menschenrechtskatalog den führenden Staaten der gegenwärtigen Weltordnung. Die Revolutionen von 1908, 1918 und 1920 haben die beiden Länder enger zusammenrücken lassen als das Militärbündnis beider Staaten im Ersten Weltkrieg erahnen lässt: Sie fügten ihrem Verhältnis das Vorbild-Nachbild-Schema ein, dessen bizarre Kehrseite gelegentlich in Sentenzen des heutigen Staatspräsidenten wieder aufblitzt. Und sie wiesen ihnen – mit bitterem Witz – verwandte, wenngleich deutlich unterschiedene Plätze im europäischen Mächtespiel zu.
Manches spricht dafür, dass der Deutsche Bundestag mit der Armenien-Resolution vom Juni 2016 in kultureller Hinsicht sein Konto überzogen hat. Ihren Initiatoren mag das gleichgültig sein, einige davon dürften keine Lust darauf verspürt haben, Reminiszenzen auszuloten, die sich dem klaren Belehrungsgestus in Sachen Völkermord widersetzen. Andererseits ist der türkische Druck seit langem spürbar: Wer jahrelang offen und versteckt Loyalität seiner Noch- oder Nicht-mehr-Staatsbürger auf dem Boden eines fremden Staates einfordert, muss früher oder später mit Gegenläufigkeiten rechnen. Was die türkische Gesellschaft – noch – im Protest zu einen scheint, erlaubt es im günstigen Fall, ihren hiesigen Ableger zu spalten und damit dem Auseinanderfallen der deutschen Gesellschaft entgegenzuwirken. Eines hingegen scheint sicher: Ob mit dem gescheiterten Juli-Putsch wirklich die Zeit des Deliriums beginnt, wie deutsche Kommentatoren überwiegend anzunehmen scheinen, oder die Säuberungen sich im Bett einer ›kalten‹ Präsidialdemokratie verlaufen, entscheidet sich nicht entlang den Linien deutscher Geschichte. In diesen Dingen verfügt die türkische Seite über weit größere Erfahrung und ein unvergleichliches Repertoire.
Neid? Doch wohl nicht.

Montag, 18. Juli 2016

Selbsternannt. Von Narren- und Zauberwörtern

Zu den Narrenwörtern des Westens gehört das Wort ›selbsternannt‹. Ein Attentäter, dessen Umfeld als ›clean‹ gilt – gleichgültig, ob er oder seine Komplizen oder seine Hintermänner etwaige Spuren sorgfältig getilgt haben, ob die Ermittlungsbehörden es aus Gründen der Staatsräson unterließen, die Öffentlichkeit über die wahren Zusammenhänge ins Bild zu setzen oder ob es sich in der Tat um einen jener legendären einsamen Wölfe handelt, deren Wolfseigenschaft sich abseits vom Rudel Bahn bricht –, ein solcher Einzeltäter muss über kurz oder lang damit rechnen, als selbsternannter Terrorist durch die Medien zu geistern, vermutlich, damit irgendeine Form der Ernennung greift, bevor über die Sache Gras wächst, und die Erwartung kommender Anschläge nicht das allgemeine Lebensgefühl eintrübt.
Gegen Selbsternannte, so die Legende, ist kein Kraut gewachsen. Man muss sie hinnehmen wie das nächste Gewitter: Singt, lacht und postet weiter. Tut so, als sei nichts gewesen. Das seid ihr den Getöteten schuldig. Allenfalls darf man Klage darüber führen, dass in jeder Gesellschaft eine ausreichende Zahl von drop-outs existiert, die immer wieder für Nachschub sorgen.
Doch kommen sie nicht nur vom unteren Rand der Gesellschaft. Genauer gesagt: Sie kommen von überall, wie das kurrente Beispiel eines zwar gewählten, gleichwohl ›selbsternannten‹, da autoritär regierenden Präsidenten belegt. Offenbar lautet ihr Motto ›Anything goes. Das ist vielen ein Dorn im Auge, vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien, die aus begreiflichen Gründen vor jeder Art von Selbsternennung zurückbeben, als werde sie unmittelbar mit Sendeverbot geahndet. Und zweifellos stellt jeder unabhängige ›Sender‹ von Nachrichten oder Meinungen für die öffentlich-rechtlichen und ihren ehrbaren Anhang eine Herausforderung dar. Darf man das? Darf man es wirklich? Und falls man es darf: Gilt dann auch, was hier, vermutlich ausnahmsweise, gedurft wurde?
Als Auslöser dieser Ängste ›gilt‹, wie bekannt, das Internet, dessen ›soziale Medien‹ die alten Mono- und Oligopole des Meinens und Dafürhaltens das Fürchten und die Bequemlichkeit lehrten. Was tun, wenn die Sendung eines ›Primärmediums kaum mehr bietet als den sekundären Aufguss dessen, was genauer und ›authentischer‹ bereits via Twitter zu lesen war? Gewiss, man könnte sich bedanken, aber so einfach liegen die Dinge nicht. Was, wenn auf den Seiten von Facebook etwas ›auftaucht‹, eine neue Realität, über die man dann – im ›wirklichen Medium‹ – zu berichten genötigt ist? Damit muss man rechnen. Wie rechnet man mit etwas, das unnachsichtig die eigene Marktposition aushöhlt, die eigene Arbeit gnadenlos deklassiert? Wie geht man mit einer Wirklichkeit um, die sich nicht wirklich um die Kanäle schert, auf denen sie einst zertifiziert wurde? Nun, man verwandelt sie in ein Format, ein irgendwie illegitimes, vor dem der Empfängerseite ein vernünftiges Grauen eingepflanzt wird: das Codewort für dieses Grauen lautet ›selbsternannt‹.
Das funktioniert, es funktioniert eine Weile, aber es funktioniert nicht immer.
Der Islamische Staat (IS) – auch er ein ›selbsternannter‹ – fordert Muslime in aller Welt auf, ihrer Glaubenspflicht nachzukommen und für die Sache des Islam zu töten. Das verstört, neben Nichtmuslimen und religiös Gleichgültigen, auch die Masse frommer Muslime, die ihre Glaubenspflicht keineswegs darin zu erblicken bereit sind, als Mörder und Selbstmörder zu enden und deshalb gewärtig sein müssen, irgendwann selbst unter die Opfer zu fallen. Viele macht es anfällig für allerlei Gedankengut, für Hintergedanken, die sie und ihre Position in der Welt betreffen, für Heuchelei und Hass, für prahlerische Bekenntnisse, für Duckmäusertum, und – hier und da – radikale Entschlüsse. In der Diktion der Dschihadisten ist ›Islam‹ kein historisch gewordenes, entfaltetes, in sich ruhendes Glaubenssystem, sondern ein Zauberwort, mit dessen Hilfe sie Täter rekrutieren – Menschen, bereit, aus Gehorsam Handlungen zu begehen, die durch keine traditionell-religiöse Moral gedeckt werden –, eine Gefolgschaft einfordernde und Wunscherfüllung vorgaukelnde Vokabel, mit der sie revolutionäre Machtphantasien auf ein riesiges Menschenpotenzial und die dazugehörigen geographischen Räume projizieren. Der Rest ist Strategie, gelegentlich auch Taktik. Wer darin eine besonders raffinierte Pointe der umfassenden Virtualisierung der Welt mit dem Effekt der ›Selbsternennung‹ zu erblicken wünscht, der möge dies tun – eigentümlich sinnfrei, auf eigene Rechnung und Gefahr.
Die Frage, wie labil Persönlichkeiten sein müssen, um als ›Einzeltäter‹ dieser Couleur in Betracht zu kommen, berührt sich mit der hier und da geäußerten Ansicht, es handle sich um sozial depravierte Menschen, denen, ähnlich dem Amokläufer, der verbrämte Selbstmord einen Abgang ›in Würde‹ verschaffe. Das mag im Einzelfall zutreffen oder nicht. Doch auch hier gilt: ein religiöses System, in dem durch wahllosen Massenmord Würde zu erlangen wäre, existiert nicht auf diesem Planeten. Allerdings muss einer schon die religiöse und menschliche Hohlheit des Appells durchschauen, um nicht als Gläubiger durch ihn infiziert und innerlich in Bedrängnis gebracht zu werden. Hier liegt die unheimliche Macht dieses wie jedes Radikalismus. Seine ideale Zielgruppe sind die Jungen, die Unbedarften, die Kämpfernaturen, die leicht Entflamm- und Verführbaren, die Tat-Träumer und hyperaktiven Weltveränderer, Personengruppen, auf denen alle Hoffnung der Welt ruht – und aller Abscheu, wenn es dann wieder zu spät ist. Wer sie an der Hand nimmt und zu welchem Ende: c’est la question. 
 

Sonntag, 17. Juli 2016

The turn of the screw. Zwischenbetrachtung

Karlheinz Deschner, der sich herausnahm, Religionsgeschichte als Kriminalgeschichte zu schreiben, brachte es doch kaum weiter als zur Geschichte der – allerdings monströsen – Verfehlungen einer welthistorischen Institution: der katholischen Kirche. Nicht im Traum wäre es ihm eingefallen, den einfachen Kirchgänger für die Machenschaften verblichener Kirchenfürsten und ihrer Helfershelfer haftbar zu machen. Allenfalls wollte er ihm die Augen öffnen, Aufklärung betreiben in jenem ältesten und unverfänglichsten Sinn, der sich aus dem Wort allem Missbrauch zum Trotz nicht ganz vertreiben lässt.
Noch weniger allerdings scheint Deschner der Gedanke in den Sinn gekommen zu sein, ein ›Volk‹, das heißt Millionen unterschiedlichster Menschen mit einerlei Pass und einer im zarten Schulbuchalter stets aufs Neue verpassten Geschichte komme als Träger eines sich von Generation zu Generation erneuernden Unrechtsbewusstseins in Betracht. Gleichwohl wäre er vermutlich nicht angestanden, ›die Deutschen‹ oder ›die Türken‹ oder ›die Spanier‹ oder ›die Engländer‹ oder wen auch immer mit den Abgründen der eigenen Geschichte zu konfrontieren. Wer stolz oder verwegen genug ist, sich und seinesgleichen eine Geschichte auf den Leib zu schreiben, der muss es aushalten, dass die ganze Geschichte auf den Tisch kommt – sei es, um den dummen Hochmut ein wenig zu beugen, sei es, um das Wissen um die Opfer der Geschichte, das heißt jener als Leitfossile apostrophierten und keineswegs namenlosen Täterfiguren und ihrer zahllosen Mittäter dem gezielten Vergessen zu entreißen, auf dass den Opfern wenigstens posthum ein wenig Gerechtigkeit widerfahre und der eine oder andere überlebende Täter seiner Strafe zugeführt werde, sei es, um der fatalen Kontinuitäten der Geschichte an der einen oder anderen Stelle Herr zu werden.
Wer so schreibt, der kann nicht umhin zu glauben, es lasse sich auf diese Weise ein den Machenschaften der Mächtigen gegenüber wacheres und wachsameres Bewusstsein erzeugen – und über das so erzeugte Bewusstsein vielleicht eine Welt, in der sie weniger sicher ihrem schier unersättlichen Tatendrang folgen. So denkt, wer schreibt, jedenfalls denkt, wer schreibt, so müssten auch jene denken, die er für seinesgleichen hält, nicht, weil ein Pass sie auf einen Nenner bringt, sondern weil sie schreiben. Vielleicht ist die Annahme ja auch richtig, wenngleich schwer überprüfbar. Allerdings gerät, wer schreibt, leicht in Fallen, die daraus resultieren, dass er in den seltensten Fällen handelt, es sei denn symbolisch – wogegen nichts spricht, solange er zwischen Handeln und Handeln zu unterscheiden weiß.
Eine dieser Fallen ist die des Moralisten, der sich an seinem Schreib-Schopf aus dem Sumpf der allgemeinen Verfehlungen zieht: er gegen sie, sie alle, die da gleichen Herkommens sind wie er, aber als nichtschreibende Zeitgenossen sich nur durch Leugnen eigener Mitschuld den Kollektivanschuldigungen zu entziehen wissen. Leugnen, vor allem, wenn es ein persönlich gutes Gewissen verrät, ist schlecht, es ist der Grundstoff des Moralisierens, es nützt nur einem und das ist nicht der Leugner. Bravsein ist besser und ein betroffenes Gesicht schadet nichts. Nach diesem Motto verfahren bei Betrügereien ertappte Konzerne – warum nicht ein Einzelner, der sich ebenso wenig entziehen kann, wenn die Geschichte eines Großkollektivs, genannt ›Volk‹ oder ›Nation‹ oder ›Europa‹ oder ›der Westen‹ und mittlerweile auch ›der Islam‹ auf seinem Rücken verhandelt wird, wie sich sein Urgroßvater oder die Großtante seines Lebensmittelhändlers dem Ruf des – keineswegs fiktiven – Staates entziehen konnte, als es galt, millionenfach in Schützengräben zu krepieren oder als lebende Phosphorfackel den patriotischen Phantasien von Schreibtischstrategen ein wenig Stoff zuzuführen?
Dumm nur, dass Bravsein dem Moralisten in den seltensten Fällen reicht. Vielmehr saugt er aus ihm jenen Honig, der ihm nicht nur das Schreiben versüßt, sondern auch das Leben. Denn in den seltensten Fällen ›weiß‹ das brave Bewusstsein, das geduldig erträgt, was über es verhängt wurde, dass jene Kollektiv-Entitäten wie ›Volk‹, ›Nation‹ etc. nichts weiter als Fiktionen sind, ›Konstrukte‹, bestimmt, das dumme Volk bei der Stange zu halten und ihm als Schicksal zu verkaufen, was unter Aufgeklärten nicht mehr bedeutet als ein Fingerschnipsen der rechten Hand oder das »Ich habs!« eines Spinners, der Probleme mit Frauen oder allgemein seiner sexuellen Orientierung hat. Es weiß es nicht, es kann es weder wissen noch glauben, weil es nicht seinem Empfinden entspricht, und es würde es auch nicht glauben, wollte sich jemand unterstehen, es ihm mehr oder minder ruppig beizubiegen.
Es weiß es nicht, aber seine studierende Tochter und sein studierter Sohn, sie wissen es wohl und niemand sage, den kühleren unter ihnen bereite es keine sadistische Freude, die Alten im Netz der Identitäten zappeln zu sehen und sie dazu als Rassisten oder Sexisten oder-was-auch-immer zu titulieren, während man selbst eine Zeitlang glaubt, fein heraus zu sein. Was den Jungen recht ist, das ist dem Moralisten billig. Es kommt ihm nicht in den Sinn, in sich selbst den Rassisten oder Sexisten zu sehen, der ein übles Spiel mit seinesgleichen spielt, nur weil er unfähig ist, sich als seinesgleichen zu betrachten. Nennen wir es die Unfähigkeit zur moralischen Reflexion, nennen wir es, wie wir wollen: Wer sich etwas herausnimmt, der muss auch etwas hineinlegen, wer sich herausnimmt, der nimmt sich selbst etwas, dessen er im ganz normalen Leben bedarf, um zu überleben – Seriosität. Es ist ein schäbiges Spiel und es erfreut seine Spieler. Aber es tötet Gesellschaft.

Ja, das ist eben schade.
Das ist das riesig Fade.


Die Hüter der Stereotype

Wann immer eine irreguläre Gewalttat oder eine Ballung endemischer Gewalt Zutritt zum öffentlichen Bewusstsein erlangt, prallen die Sprache der politischen Korrektheit und ihr Gegenbild, die öffentliche und private Hass- oder Wutrede, aufeinander. Zweifellos handelt es sich um ein Ritual, dessen wenig geheime Bedeutung darin besteht, ›das Schlimmste‹ zu verhüten: das Überspringen der Gewalt in die allgemeine Praxis oder in eine ›neue Dimension‹, wie es euphemisierend bei den Verantwortlichen heißt.
Political correctness und hate speech: begriffslogisch handelt es sich um korrelative Begriffe, einst geprägt, um einer linksliberalen Politikauffassung das Navigieren in einem von sozialer Ungleichheit und ideologischer Borniertheit geprägten Umfeld zu erleichtern. Das ist lange her. Heute gehören sie zum Schmäh-Vokabular einer entgleisenden Debattenkultur, in der die Erregung konsequent das Argument dominiert. In ihrem strikten Wechselbezug sind sie Varianten der Stereotypen-Rede, deren Muster und Wirkungsmechanismen jahrzehntelang systematisch erforscht wurden, ohne dass die Ergebnisse dieser Arbeit sich jemals auf die öffentliche Sprechtätigkeit ausgewirkt hätten. Sicher liegt das auch an der Vielzahl von Studien, in denen Stereotype vorrangig mit Vorurteilen, Hass und struktureller Gewalt in Verbindung gebracht werden. Wissenschaft schützt nicht vor Parteilichkeit: Stereotype sind stets die der Anderen.
Etwas daran ist zweifellos wichtig – und richtig. Schließlich dienen Stereotype der Abgrenzung vom jeweils Anderen, die mittelbar in Kontrolle übergeht. Wer einmal ins Schema fällt, kann identifiziert, isoliert und auf Distanz gebracht werden. Das lässt sich verbal oder dinglich ins Werk setzen: durch klassifizierende Herabwürdigung, durch physische und psychische Demütigung, Bestrafung, Missachtung, durch sozialen Tod, durch manifeste Ausgliederung wie Haft, Abschiebung, Ghettoisierung, schließlich durch Proskription und Markierung im Hinblick auf künftige Auseinandersetzungen. Wer den Gegner kontrolliert, kontrolliert in der Regel auch die eigenen Leute, soll heißen, er schreibt ihnen vor, welche Empfindungen, Bilder und Worte ihnen einfallen, sobald sie über ihr Gruppen-Wir zu kommunizieren beginnen.
So weit, so bekannt. Weniger bekannt scheint zu sein, dass die Aufrechterhaltung von Ordnung, sofern sie, von normaler Polizeiarbeit abgesehen, allein oder überwiegend mit Hilfe von Stereotypen gelingt, allen Bedenken zum Trotz den milderen Regimen zugerechnet werden muss. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Stereotype, hinter denen keine unmittelbare Gewalt droht, sich in der Praxis nicht ungebremst durchsetzen lassen. Sie werden, je nach den Erfordernissen des Alltags, zurechtgeschliffen, interpretiert, beiseitegeschoben, gelegentlich ins Gegenteil verkehrt, ohne dass es dazu einer förmlichen Aufhebung bedürfte. Und sie müssen sich der Konkurrenz der Argumente stellen, wann immer die konkrete Situation es erforderlich macht. Natürlich weiß das die Mehrheit. Doch der Doppelcharakter der Hassrede treibt die Parteien unweigerlich gegeneinander und verschließt die Einsicht in das, was als spontane Einsicht dem Spiel der Stereotype zugrunde liegt. Diese Einsicht ließe sich folgendermaßen zusammenfassen: Erst das Gruppengefühl lässt den Einzelnen über sich hinauswachsen und verleiht ihm die Stärke, die zur Bewältigung größerer Daseinsprobleme vonnöten ist. Die Gruppe wiederum ist stärker als jedes Hindernis auf dem Weg zum besseren Leben – und sei es der Tod. Der ›Kampf‹ der Gruppe – nicht ums Dasein, sondern für eine angenehmere, bedürfnisoffenere, bedarfsgerechtere, selbst-gerechtere Welt – eröffnet das ›bessere‹ Leben, dessen bedeutendster Teil im Hochgefühl liegt. Stereotype sind, anthropologisch gesehen, Kodifikationen dieses Hochgefühls.
Der Primat des Sozialen kommt nicht von ungefähr. Gleichgültig, ob man seinen Ursprung in der Jagdgemeinschaft und den räuberischen Instinkten der Kleingruppe, in prototypischen familiären Bindungen oder in den Notwendigkeiten der Arbeitsteilung, in den hierarchischen Strukturen von Großorganisationen oder in der Angst des Einzelnen vor dem Unbekannten verankert sieht – das Ergebnis bleibt immer dasselbe. Gemeinsam sind wir stärker. Dieser Satz ist vielleicht die erste und mächtigste aller Stereotypen. Gewiss liegt er allen anderen zugrunde. Man versteht wenig oder nichts von Religionen, wenn man sie als einen Mix aus überkommenen Glaubenssätzen und archaischen Praktiken ansieht, die unbegreiflicherweise und zum Schaden ihrer Anhänger der Erosion durch neue Erkenntnisse und vor allem durch die Zeit selbst trotzen. Während zum Beispiel der Nationalstaat mit seiner bekannten Tendenz, sich Religionen gefügig zu machen, auf ein Territorium und eine gemeinsame Geschichte angewiesen ist, um zu überleben und sich zu behaupten, genügt den Frommen die Ursprungsrede, der gemeinsame ›Quell‹ ihrer Überzeugungen, um zueinander zu finden und ›stark zu sein‹ – auf welchem Boden auch immer. Wer daraus schließen will, dass Religionen stärker sind als Nationen oder postnationale Standards, möge das tun. Auf Zeit gesehen – wie sonst? – handelt es sich wohl eher um ein totes Rennen, bei dem ›am Ende‹ alle wieder miteinander auskommen müssen. Was die Ewigkeit angeht – nun...
Immer wieder zeitigt der Primat des Sozialen groteske, entsetzliche und tragische Ergebnisse. Die liberalen Gesellschaften sind gewarnt: zu seinen schauerlichsten Hervorbringungen zählt der Sündenbock, die erbliche Fratze aller ›Kultur‹, und mit ihm der Pogrom. Doch es gibt weitere – bis hin zum kulturell verhängten Selbstmord einer Gruppe oder ganzer Populationen. Ein zu bedenkendes Beispiel wären Gesellschaften, die zerfallen und sogar absterben, sobald Ressourcen versiegen, auf deren Ausbeutung ihr Selbstbild oder das einer ihrer führenden Schichten beruht. Es marschiert sich leichter in den Ruin als in die Namen- und Gesichtslosigkeit. Apropos: zur Gesichtslosigkeit zählt auch die Geschichtslosigkeit. Es ist stets nur ein kleiner Teil einer Gesellschaft, der über wirkliche Geschichtskenntnisse verfügt. Der Rest fügt sich den Stereotypen und verstaut darin, was man ihm beigebracht hat. Die stereotype Geschichte bändigt die Gesellschaft in der Mitte und lässt sie an den Rändern ausbrechen. Das Spiel der Stereotype führt sich selbst die Opfer (und Helden) zu, die es zu seinem Überleben benötigt.
Es besteht kein Grund, sich über die Anderen zu erheben.

(Erstmals: Globkult, 11. Juli 2016)

Samstag, 9. Juli 2016

Das vergisst sich leicht

Vergessen schmerzt nicht, es schadet nur – tröstliche Botschaft für alle, die sich in den Kopf gesetzt haben, die Welt zu verbessern, ohne sich gründlich mit ihr auseinandergesetzt zu haben. Auseinandergesetzt? Wer hätte sich nicht –? Nichts, wenn man sich umhört, geht den Mitmenschen leichter von der Hand als sich ›auseinanderzusetzen‹. Fast jeder hat es irgendwann getan, die meisten sind gerade, soweit ihre begrenzte Zeit es zulässt, im Begriff, es zu tun oder wünschen es sich um ihr Leben gern. ›Ich setze mich gerade auseinander‹ – ein erstaunliches Bekenntnis, lieber wünschte man der betreffenden Person, sie säße gerade gemütlich beieinander. Und tut sie es nicht? Warum klaffen Selbstaussage und Fremdwahrnehmung gerade hier so hemmungslos auseinander?
Man ist geneigt, der Frage nachzugehen, vorausgesetzt, sie führt nicht zu tief in die Psyche der betreffenden Person hinein. Wirklich gibt es dafür keinen besonderen Grund, denn es handelt sich um gesellschaftliche Rede, bei der die individuelle Psyche ein bisschen pausiert. ›Auseinandersetzung‹, jedenfalls in der reflexiven Form (›sich...‹) ist das A und O der Informationsgesellschaft. Informiert ist, wer sich auseinandergesetzt hat. Wer sich informiert, der setzt sich auch auseinander, jedenfalls dann, wenn es nicht ›bloß oberflächlich‹ geschieht. Auseinandersetzung geht demnach in die Tiefe, nicht nur in die Breite, sie besitzt eine dritte Dimension, sie beansprucht Raum, mehr Raum als üblich, das sagt schon das Wort. Was sagt es noch? Wer sich auseinandersetzt, der beansprucht nicht allein Raum, er beansprucht auch Platz – leeren Platz, den er zwischen sich und den Gegenstand schiebt, als sei letzterer ansteckend und man selbst auf der Hut. Vor was? Vor Ansteckung natürlich. Nichts erscheint so natürlich wie diese Auskunft, nichts so frei von Selbstzweifeln, nichts so unbedacht, so dass man sich unwillkürlich fragt, wie es möglich sein kann, dass gerade sie als Standardformel für das Bedachthaben sich durchsetzen konnte.
Was hat die Auseinandersetzung mit dem Vergessen gemein? Vieles, wenn nicht alles, man könnte meinen, das eine sei eine Unterabteilung des anderen. Das liegt daran, dass, wer sich auseinandersetzt, kein gesichertes Wissen beansprucht – schließlich ist die Auseinandersetzung gerade in vollem Gange und dementsprechend sind alle Optionen offen. Sich nicht festnageln lassen – das ist, als gesellschaftliche Option, eine fast antichristliche Haltung und siehe, sie macht sich bezahlt. Ich könnte mich ein für allemal kundig machen – wer sagt mir, dass ich nicht gerade da einer falschen ›Kunde‹ aufsitze? Und angenommen, ich wäre so frei, es dennoch zu tun: Es ist diese Freiheit, in der die Kunde über kurz oder lang zur Sage, zur verkürzten Reminiszenz und zur Verwechslung führt und damit zurück in die ausgebreiteten Arme der immerwährenden Auseinandersetzung, die stets eine geführte zu sein beansprucht. Was zwischen mir und mir geschieht, findet sein Widerspiel im Gespräch. Etwas behaupten heißt nicht, dass man es weiß – nicht einmal, dass man es zu wissen beansprucht. Allenfalls heißt es, dass man es im Augenblick des Sprechakts meint – was im Hinblick auf das zweite Ich, mit dem man sich gerade in einer spannenden Auseinandersetzung befindet, nur bedeuten kann, dass zwischen mein und mein dieser bedeutende Unterschied klafft: Das Gemeinte ist nicht das Gemeinte, gerade nicht, es ist der Stoff, der die Auseinandersetzung zwischen mir und mir befeuert, bis sie irgendwann erlischt, weil die Rede-Ressourcen sich zum Ende neigen oder die Zeit, die allmächtige, ihr Veto einlegt.
Aber irgendwo in diesem Getriebe muss es das Wissen doch geben? Warum kommt es niemals heraus und klärt die Situation? Ganz einfach: weil das Meinen weiter ist als das Wissen. Das bedeutet nicht, dass es mehr wüsste – woher wohl? –, auch nicht, dass es einem künftigen Wissen vorarbeitete, sondern weil es Auskunft darüber gibt, wie die Menschen denken – wie sie ticken, um im Jargon der Meiner zu bleiben. Das zu wissen ist wichtig, weil es Führung erlaubt – Debattenführung, Menschenführung, Geschäftsführung, politische Führung... Hier also steckt das Wissen, deshalb kommt es nicht heraus: im verbalen Ups, im Das-habe-ich-gesagt? verbirgt sich der ganze Mensch, er ver- und entbirgt sich ganz nach Bedarf, vorausgesetzt, man versteht unter dem ganzen Menschen jenes lenk- und zuteilbare Wesen, das mitreden will und gern vernimmt, dass seine Meinung gefragt ist, nicht etwa sein Wissen, seine ›Expertise‹ – die auch gefragt ist, aber dafür gibt es Experten. Eine Expertenbefragung konzentriert sich, wie jeder weiß, auf wenige Punkte: »Stopp, das wollten wir wissen, das genügt jetzt.« Der Auskunftsautomat lehnt sich zurück und schweigt. Er hat zu alledem eine Meinung, er könnte sie äußern, er würde sich verheddern wie die anderen auch, es ist alles eine Frage von Zeit, Ort und Umständen. Die wahren Meiner sind Experten wider besseres Wissen, deren Leidenschaft mit der Unklarheit ihrer Erinnerungen konkurriert. In den Talkshows streiten die unklaren Erinnerungen um die besten Plätze im Bewusstsein der Nation. Forcierter kann man Vergessens-Training nicht betreiben.

Samstag, 2. Juli 2016

Brexit: Notfall der Souveräne

Wer auf Dummenfang geht, ist in der Regel um ein Wort nicht verlegen. Die Hälfte davon sind Schuldzuweisungen, der Rest Abwehr – Abwehr von Menschen, Analysen, Auffassungen, die nicht gefragt sind, denen zu folgen zu einfach wäre oder zu riskant oder beschämend oder nicht förderlich.
Vor allem der letzte Posten verdient die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Betrachters. Schließlich kreisen die Gedanken, die man politische nennt, unaufhörlich um alles, was sich als förderlich erweisen könnte. Das Freund-Feind-Schema macht daraus alles, was dem politischen Gegner – vulgo: Feind – Schaden zuzufügen vermag. Auf Kosten anderer leben, wer möchte es nicht? Vorausgesetzt, es fällt weiter nicht auf oder man kann es als eine altruistische Tat verkaufen. Im anderen Fall hat einer nicht weit genug gedacht und kommt auf die Strafbank.
Die Superreichen, die USA, England, die EU, Deutschland, die Deutschen, soweit sie in Betracht kommen oder sich Gehör zu verschaffen wissen, die rundum oder halbwegs Versorgten der Systeme sowie jene Menschenfreunde, die weltweit Menschen ihres Besitzes entledigen und dafür in Seelenverkäufern und Schlimmerem aufs offene Meer hinausschaffen, damit sie dort ersaufen oder von anderen Menschenfreunden gerettet werden, sie alle leben auf Kosten anderer und wünschen nichts dringlicher als diesen Zustand in alle Zukunft hinein zu erhalten.
Deutschland, von seinem Außenminister jüngst (in Foreign Affairs) als ›major power‹, sprich: Weltmacht bezeichnet, verdankt seine Rolle im Weltsystem der Europäischen Union. Da dies jeder weiß, der sich auch nur ansatzweise mit Politik beschäftigt, wissen es auch seine – heimlichen und offenen – Gegner. Es wäre naiv, solche Gegnerschaften zu leugnen, sie ergeben sich aus ökonomischen, kulturellen und geographischen Lagen und haben glücklicherweise in der Regel wenig gemein mit jenen Erb- und Todfeindschaften, die auf Gedenkveranstaltungen beschworen und schnell in finstere Vergangenheiten entsorgt werden.
Aus Anlass des Brexit wird das besonders deutlich: Soweit das Votum der Briten dem Programm der ›Vertiefung‹ der EU, das heißt dem von Deutschland im nüchtern kalkulierten Eigeninteresse vorangetriebenen Prozess der Eingliederung der europäischen Nationalstaaten in einen Staatenbund mit Tendenz zum Bundesstaat sowie der von Deutschland maßgeblich durchgesetzten (oder, je nach Blickrichtung, hintertriebenen) Flüchtlingspolitik gilt, taucht hier am Horizont der künftigen Dinge ein Rivale auf, den es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hatte.
Es wird sich, je nach Lage der Dinge, um einen friedlichen, selbst freundlichen ›Partner‹ handeln, zweifellos jedoch um einen politischen Rivalen, dem die erfolgreiche ›Weiterentwicklung‹ der verlassenen Gemeinschaft in dem Maße zum Dorn im Auge werden muss, in dem die Logik des Brexit, die Rückkehr zum uneingeschränkten Nationalstaat, sich in seiner Politik Geltung verschafft. Der Schnitt, der Großbritannien – oder möglicherweise bald England – von der EU-Entwicklung abtrennt, wird, wenn überhaupt, nur auf kurze Zeit Entlastung ins Geflecht der – noch – internen Spannungen bringen. Die inneren Angelegenheiten Europas werden auf der Insel auch weiterhin das nationale Interesse beanspruchen und in der Außenpolitik werden, nebst der überwältigenden Abhängigkeit von den USA, allein die Nato-Interessen als einzig übriggebliebenes formelles Band der Machtkonkurrenz die notwendigen Zügel anlegen. –
Die Würfel sind gefallen, wenn irgendwo weiter gewürfelt wird, dann um Ämter und Strategien, nicht um die Entscheidung selbst. Das Hepp Hepp der hiesigen Medien, soweit sie in den weltweiten Chor der Brexithasser und -leugner einstimmen, richtet sich nicht bloß gegen das Personal des Übergangs, mit dem man es noch eine Weile zu tun haben wird, es richtet sich mehr und mehr unverhohlen gegen den Souverän, der, zerrissen, wie das Land zwischen Brexiteers und Remainers nun einmal war, eine Entscheidung zu treffen hatte, auf dass sie gefallen sei. Die Frage, ob es klug war, dieses Referendum abzuhalten, die Frage, ob ›uns‹ das Ergebnis schmeckt, oder, noch geschmackloser, welche Minderbemittelten an den Urnen wohl den Ausschlag gegeben haben mögen, sie treten zurück gegenüber dem elementaren Umstand, dass, wer das Votum der Wähler nicht akzeptiert, sich als Gegner der Demokratie zu erkennen gibt und dem inneren Unfrieden das Wort redet.
Das verheißt nichts Gutes für kommende Konfliktzeiten im eigenen Land. Für heute bleibt anzumerken, dass, unter dem Deckmantel von Weltoffenheit und jugendbewegter Realitätsschelte, in den besinnungslosen Tiraden einiger Öffentlichkeitsarbeiter bereits eine Gegnerschaft anklingt, vor der sich die Deutschen, abseits aktueller Regierungspolitik, auch weiterhin sorgsam hüten sollten. Ansonsten gilt die Prognose: Gegen England wird Deutschland in Europa immer den Kürzeren ziehen. Die Frage ist nur, ob auf lange Sicht oder auf kurze.