Zur Ökonomie der Illusion


Die Ökonomien der Illusion und des Vergessens sind eins.

Mittwoch, 29. Juni 2016

Vorwärts immer. Reifes vom Mundwerk

Ruckediguh, Blut ist im Schuh. Wieder ein Sommermärchen

 »... und, meine Freunde, lasst es euch gesagt sein und sagt es weiter: Lasst euch nicht einreden, dass euch der Schuh drückt! Es ist ein guter Schuh, mit einer Sohle, die weiß, wo es lang geht, mit einem Absatz, auf dem man auf der Stelle kehrt machen kann, wenn einem danach der Sinn steht, mit einem Oberleder, fein wie Feigengrütze, auf dem spiegeln sich alle Wunder der Welt! Freilich auch alle Ungereimtheiten, über die müssen wir reden, auch in Brüssel, auch in Bochum und Gelsenkirchen, selbst in Straßburg, selbst in Frankfurt, wenn’s sein muss, bei den Kollegen in den Vorstandsetagen, das ist doch klar, das ist unser Ziel, das ist unser Auftrag, das ist unsere Zukunft.
Lasset uns also reden, jeder an seinem Arbeitsplatz, jeder in seiner Kantine, jeder am Tresen, lasst es uns immer und immer wieder sagen: Dieser Schuh ist gut! Wer da glaubt, dass dieser Schuh ihn drückt, dem wollen wir sagen, immer und immer wieder: Einen anderen Schuh gibt es nicht! Und wer diesen Schuh ausziehen will, dem sagen wir ins Gesicht: Nicht mit uns! Denn, liebe Freunde, lasst es uns immer und immer wiederholen: Einen anderen Schuh gibt es nicht! Und wenn die anderen es nicht mehr hören wollen, wenn ihr es selbst nicht mehr hören könnt, wenn ihr meint, es hänge euch zu den Ohren heraus: Sagt es wieder! Legt eine Schippe drauf! Einen anderen Schuh gibt es nicht!
Denen, die euch verführen wollen, barfuß in die Wälder zurückzukehren, denen rufen wir zu: Nicht mit uns! Wir kennen eure Sirenengesänge, wir kennen eure dumpfen Parolen, wir kennen euer Stammtischgewäsch, wir kennen es aus der schuhlosen Zeit, die nun, den Anstrengungen unserer Vorgänger sei es gedankt, hinter uns liegen. Es gibt kein Zurück! Dieser Schuh wird getragen, diesen Schuh werdet ihr ertragen, solange! solange! solange! ein Tropfen Proletenblut in unseren Adern kreist. Lasst euch nicht beirren. Erkennt die Feinde des Volkes! Ihr erkennt sie zuverlässig am Genörgel. Lasst nicht zu, dass sie euch den Schuh kaputtmachen! Was mit Genörgel beginnt, das mündet früher oder später in Hass, in Erbitterung, in gesellschaftlichen Zwiespalt und – Klassenkampf. O ja! Bekämpft die Spalter, bevor sie euch spalten. Wer aber behauptet, dass dieser Schuh drückt, von dem müssen wir uns trennen. Und deshalb: Seid wachsam! Seid wachsam und...
Da ermahnen uns die Genossen von jenseits der Siebzig: Vorsicht! Ihr habt die Zeit nicht erlebt. Ihnen rufen wir zu: Na und? Sollen wir vielleicht erst noch achtzig werden, damit wir das Sagen zu haben? Nein, liebe Seniorinnen und Senioren – die fangen beide mit S an: S&S, nee Kinder –: Heute sind wir hier, weil wir das Sagen haben! Seht euch um! Seht euch gründlich um, denn jetzt sind wir eure Zukunft. Und wir lassen uns diese Zukunft nicht kaputtmachen. Nicht durch euch und eure sogenannte Nachdenklichkeit kaputtmachen. Von Nachdenklichkeit ist die Welt nie besser geworden. Denkt vor! Denkt weiter! Und wer da kommt und sagt, wir wären eine Seniorenpartei, dem rufen wir zu: Na und? Ist das schlecht? Müssen nicht alle ins Heim? Besser früher als später! Besser jetzt als nie! Diese unsere – sagte ich ruhmreiche? – Partei hat ihre Reife bewiesen ... an die Adresse der Besserwisser sei es gesagt: unter härtesten Bedingungen bewiesen! Wer ihr hier und jetzt diese Reife vorwerfen zu müssen glaubt, dem antworten wir ruhigen Gewissens: Besser einmal als nie! Besser einmal und nie wieder als nie und nimmer.
Um auf den Schuh zurückzukommen: Ja, ja, ja. Wir wissen, dass dieser Schuh drückt. Glaubt nicht, wir wüssten nicht, wo euch dieser Schuh drückt. Wenn wir sagen, es gibt keinen anderen, dann, das müsst ihr uns glauben, wissen wir genau, wovon wir reden. Wir wissen es und die da wissen es nicht. Wir tragen die Last der Welt und die da glauben, sie könnten das auch. Wir haben verstanden und die da glauben, sie verstünden auch etwas davon. Nichts haben sie verstanden! Lasst euch nicht anstecken von ihrer Unwissenheit. Seid froh, wenn ihr nichts davon wisst. Schuh ist Zukunft, Unbeschuhtheit Barbarei. Wenn euch der Schuh drückt, behaltet es für euch. Euer Schuh ist unser Schuh. Wir werden diesen Schuh nicht mehr ausziehen, nicht bis ans Ende der Welt. Auch das müsst ihr uns glauben und vieles andere mehr. Irgendwann, das verspreche ich euch – und ich gebe euch dieses Versprechen nicht allein –, irgendwann wird euch nichts mehr drücken. Ja, ihr habt richtig gehört: Dafür stehen wir! Die Zeit der Gerechtigkeit, sie wird kommen, ganz von allein, auf leisen Sohlen meinethalben, aber sie wird kommen. Dafür stehen wir. Dafür kämpfen wir. Daher: Lasst uns den Druck aushalten! Lasst uns zusammenstehen! Lasst uns nicht stehen! Lasst uns...«

Sonntag, 12. Juni 2016

Das Nationen-Spiel

Mein famoser Nachbar… ich hätte mich gleich erkundigen müssen, warum er die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestags als ›Deal‹ bezeichnete. »Ein Geschäft? Mit wem? In welcher Sache? Zu welchen Konditionen?« So hätte ich fragen müssen. Warum tat ich es nicht? Wie wenig weiß der einfache Bürger über die Beweggründe derer, die ihn vertreten, wie wenig begehrt er zu wissen! Und wirklich besteht ihre Aufgabe nicht darin, ihn zu belehren. Gerade nicht!
An dieser Stelle geht mir die eigentümliche Diktion des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump nicht aus dem Sinn, der als künftiger Präsident der Vereinigten Staaten unermüdlich bessere ›Deals‹ mit dem südlichen Nachbarn und anderen Staaten des Erdballs in Aussicht stellt. Wie man weiß, ist Herr Trump Geschäftsmann. Seine Diktion wie seine Denkweise stammt aus praxisgesättigter Überzeugung. Wie anders? Der Deal, den der Kandidat der Nation anbietet, besteht darin, dass er, als klassischer Selfmademan, sich bereits bezahlt gemacht haben will, bevor er in ihre Dienste tritt, anders als die von ihm geschmähte Konkurrenz, die sich für all das viele Geld erst revanchieren müsste, das bereits in ihr steckt und bis zur Wahl noch hinzukommen soll. In deutschen Medien wird dieser Komplex nur beiläufig gestreift, schließlich hat man hierzulande ein anderes System und ist daher, wie gewohnt, an Fragen der politischen Käuflichkeit weniger interessiert. Woran dann?
Alle Breitseiten aus der Türkei (um auf meinen Nachbarn und den von ihm registrierten ›Deal‹ zurückzukommen) zeigen, dass im Bundestag ein Nerv getroffen wurde. Aber welcher? Der Nerv der guten Nachbarschaft? Nicht nachvollziehbar (also ausgeschlossen). Türkisches ›Geschichtsbewusstsein‹? Was wäre, aus deutscher Sicht, Geschichtsbewusstsein anderes als Bewusstsein nationaler historischer Schuld? Nicht nachvollziehbar, soweit die deutsche Seite im Spiel ist (also ausgeschlossen). Es sei denn… Wir denken an den deutschen Erziehungsauftrag, immer und überall auf dieses Bewusstsein hinzuwirken, das aus den verklausulierten Formulierungen der Resolution so unübertrefflich hervorleuchtet. Kein massakrierter Armenier wird dadurch wieder lebendig, kein lebendiger türkischer Staatsbürger ein Gran schuldiger als zuvor.
Aber halt! Liegt vielleicht gerade darin der Deal? Haben nicht türkische Medien im ersten Überschwang der Empörung die Ausbürgerung deutscher Abgeordneter – und Staatsbürger! – türkischer Herkunft gefordert? Als Deutsche stehen diese Abgeordneten, dem Selbstverständnis dieses Parlaments entsprechend, ganz ohne Zweifel in der Kontinuität deutscher Schuld – alles andere gälte als naiver Ethnozentrismus, wenn nicht gar Rassismus.
Der Spagat, als Deutsche belehrt, als Türken unbelehrbar zu sein, scheint kaum anders auflösbar zu sein als durch die Hereinnahme der türkischen Schuld in den deutschen Schuldkomplex per Resolution. Von welcher Ausbürgerung war also in türkischen Medien die Rede? Der türkischen (ohne sachliche Grundlage, also imaginär)? Der deutschen (denkbar, aber illusionär)? In welcher Brust leben Deutsche und Türken derart tückisch-kreuzweise nebeneinander? Die Frage wäre eine Klärung wert, bevor die wechselseitige Empörung weiterbrandet, sprächen die begleitenden Morddrohungen nicht bereits eine andere Sprache.
Der türkische Staat sträubt sich, den völkerrechtlich festgeschriebenen Begriff ›Genozid‹ in seine Selbstbeschreibung aufzunehmen, und pocht in dieser Frage unbeirrbar und unerbittlich auf die Loyalität des Einzelnen gegenüber der Nation, wo immer sich ihre Angehörigen niedergelassen haben. Wer will, darf darin einen Skandal erblicken. Bemerkenswert ist es auf alle Fälle. Der Skandal im Skandal besteht darin, dass dieser Staat, zählt man die öffentlich getätigten Äußerungen zusammen, gewählte Repräsentanten einer anderen Nation als seine Vertreter zur Räson zu rufen und sogar zur Rechenschaft ziehen zu können beansprucht.
Kommt hier der Deal ins Spiel? Sollte dieses abgründige Verhältnis zwischen zwei Staaten, die durch vielerlei zivile und nicht-zivile Bande miteinander verflochten sind und die noch viel miteinander vorhaben, durch den Deutschen Bundestag sichtbar gemacht werden? Falls ja: aus welchem aktuellen Grund? Was hätte diese Resolution dringlich gemacht? Und nochmals: Worin besteht das Geschäft?
Nun ist der deutsche Bundestag nicht das erste europäische Parlament, das eine solche Resolution gefasst hat. Sie atmet gewissermaßen europäischen Geist, auch wenn einige Staaten, darunter einer mit großer kolonialer Vergangenheit, ebenso wie die USA aus mancherlei Gründen abseits stehen. Dieser europäische Geist ist leicht zu durchschauen: Es ist der alte Geist leerer Versprechungen, der die Türkei zugleich draußen und drinnen halten soll, es sei denn, sie wäre eines Tages devot genug, der eigenen Vergangenheit abzuschwören und sich vollständig zu europäisieren – was immer das dann heißen müsste. Den Europäern wird schon etwas einfallen. Man kann das ›schlimm‹ finden, doch es entspricht der historischen, geographischen, kulturellen und ökonomischen Schwellenlage der Türkei. Keiner der heutigen Akteure hat sie sich ausgesucht. Sie wird aber gelebt – und zwar von beiden Seiten –, wie der Merkel-Erdogan-Deal in der Flüchtlingsfrage gerade wieder beweist.
Wenn dieser Vertrag torpediert werden kann, dann im Bundestag. Auch in dem Fall erhöbe sich die Frage nach den Motiven. Aber vielleicht sollte er gar nicht torpediert, sondern, ganz im Gegenteil, für weniger offenkundige Zwecke benützt werden? Eine Türkei, die ihre Ordnungsvorstellungen in Europa geltend macht, wirft andere Fragen auf als eine, für die Europa als Ordnungsmacht Standards setzt. Dann allerdings wären die Betreiber der Berliner Şehitlik-Moschee in eine subtil gestellte Falle gegangen, als sie eilfertig aus gegebenem Anlass den zum Besuch angesagten Bundestagspräsidenten ausluden. Und nicht nur sie: An dieser Scheidelinie werden viele und wird mancherlei sichtbar werden. Für Publikum ist gesorgt.

Donnerstag, 9. Juni 2016

Deal and run!

»Der Armeniendeal spaltet die ganze Gesellschaft. Von rechtsaußen bis linksinnen: einig ist sich da keiner. Warum fasst der Bundestag solche Beschlüsse? Aus Trotz? Aus schlechtem Gewissen? Oder aus überbordendem gutem? Wahrscheinlich stimmt nichts von alledem. Was wissen wir über den Bildungshintergrund unserer Abgeordneten? Nichts. Oder sagen wir vorsichtig: sehr wenig. Ob einer zum Beispiel in Geschichte geschlafen hat, werden wir nie erfahren, und selbst wenn wir es ausschließen könnten, wüssten wir nicht, welche Lehrer er hatte. Lehrer! Das ist der Unterschied. Sie können einen Lehrer haben, bei dem Sie etwas lernen, und Sie können einen haben, der Sie alles verpassen lässt, auch wenn Sie aufpassen wie ein Luchs. Und ein Luchs müssen Sie schon sein, wenn Sie in den Bundestag kommen wollen. Sie müssen wissen, wann es sich ziemt, der Türkei auf die Füße zu treten, dass es knirscht, den Zeitpunkt müssen Sie abschätzen können, sonst haben Sie in so einem Gremium nichts zu suchen. Zum Wohle des Volkes! Andererseits: allzu helle müssen Sie dafür nicht sein, andere, die heller sind, helfen Ihnen schon auf die Beine. Solche Lichtgestalten braucht jedes Land, sonst sieht es düster aus. Wissen Sie, was ich mir gedacht habe? Die wahren Lichtbringer sind immer die anderen. Ein klein wenig religiöser Hintergrund kann nicht schaden, das hilft der Psyche, sich in fremde Kulturen hineinzudenken. Das Volk der Schuldiger als Möchtegern-Gläubiger, darauf muss man erst kommen. Jede Schuld trägt sich gemeinsam leichter, das ist ganz natürlich, da sieht man sich gern nach Schultern um, die noch frei sind. Und – sind sie denn frei? Mitnichten? Unser Volksvertreter ist schlau, sein Deal lautet: Helf ich deiner Schulter, hilfst du meiner Schulter. So denkt er sich das, bei all den Türken in diesem Land ein ganz plausibler Gedanke, wenn Sie mich fragen. Er trägt ja fröhlich Mitschuld, als Beigewicht wiegt sie praktisch nichts, das kann er schultern.«
So hörte ich diesen Morgen meinen Nachbarn tönen, er war vor die Tür getreten, um zu telefonieren – eine hässliche Angewohnheit, wenn Sie mich fragen, so weiß ich zwar, was er denkt, doch ich finde, er denkt zuwenig und schwätzt zuviel. Immerhin weiß ich nun, dass diese Resolution das Volk bewegt, und das ist viel. Wozu ... bewegt sie es? Es schien mir etwas wie Hohn in dieser Stimme zu liegen, nicht viel, aber vernehmlich, vielleicht auch nur Spott, darüber möchte ich nicht rechten. Sie, unsere Volksvertreter, wollen das Volk ja zum Nachdenken bringen, das ist ihr Anliegen, dafür wurden sie gewählt. Wenn, denkt so eine Abgeordnete vielleicht, die Türken draußen im Lande nicht über Geschichte nachdenken wollen, dann ist vermutlich ein wenig Nachhilfe angebracht. Ein kleiner Schuld-Diskurs mit doppeltem Boden und falschem Zungenschlag tut da Wunder. Auch eine diplomatische Entfremdung zwischen Ankara und der Regierung kann, wenn’s denn sein muss, nicht schaden, wir sind ohnehin verstimmt, dass unsere heitere Muse am Bosporus so wenig Anklang findet. Dann ist es aus mit der doppelten Loyalität! Jetzt rede ich schon fast wie mein Nachbar. Hört mir überhaupt jemand zu? Da haben sie halt das Lineal herausgeholt und dem Türken auf die Finger geklopft. Denn der Türke ist älter als so ein Jahrhundert und weiß schon, was er damals in unverbrüchlicher Schuldgemeinschaft mit uns verbrochen hat. Das nächste Mal gibt’s Onkel Sam eins auf die Finger, der wird schön bluten. Und erst die anderen! Sie kommen alle dran. Der deutsche Abgeordnete ist frei und er beschließt, was er will.