Zur Ökonomie der Illusion


Die Ökonomien der Illusion und des Vergessens sind eins.

Montag, 26. Dezember 2016

Deutsches Roulette


Im Land der Ordentlichen
schürt die Ordnung
den Hass auf die Aufklärer.
Im Land der Aufgeklärten
erklärt das Pfarrhaus die Weltlage.
  
Auf Massenmord folgt
der Appell, nach Hause zu gehen
und keine Angst zu zeigen, es sei denn
den lieben Kleinen
in Büchern aus Pappe,
um sie zu wappnen.

Montag, 12. Dezember 2016

Die Unruhe


Europa hat zu lange auf die feinen Unterschiede gestarrt, jetzt überraschen es die groben. Manchmal ist es die Zeit, die sich parodiert, manchmal sind es die Zeiten. Doch doch, da besteht ein Unterschied: Was als Tragödie beginnt und als Farce endet, das nennen manche Geschichte. Was als Farce beginnt, wie wird man es nennen? Wie vieles, das gern gesagt werden möchte und im Herauskommen verdirbt: schwer zu sagen. Bliebe es doch ungesagt! Aber wäre das eine Lösung? Natürlich nicht, denn heraus kommt alles. Bloß wie und wo, das macht fremde Gedanken. Wer die Fassung verliert, hat schon verloren. Wer die Fassung wahrt, der gewinnt Zeit. Vielleicht hat er bereits verloren, dann zählt sie doppelt. Fragt sich: Wer ist der Zähler? Was, wenn gerade er nicht zählt? Solche Fragen überfordern den Menschen leicht und er wünscht sich, es wäre Abend.

Sonntag, 11. Dezember 2016

Wer – wen?


Die Schwierigkeiten kämpferischer Atheisten, die sich selbst Humanisten nennen, mit Gott wären noch größer, als sie es ohnehin sind, verstünden sie ein wenig mehr davon, was es heißt zu glauben. Dadurch, dass sie glauben, sie hätten den Glauben hinter sich, befinden sie sich bereits in der ersten Glaubensverirrung, die da heißt: missionieren um jeden Preis. Ein rechter Missionar bekämpft seine Glaubenszweifel, indem er andere zu bekehren versucht. Das Feuer, das in ihm brennt, vertilgt den Scheiterhaufen, in dem neben und mit der fremden Schlacke die eigene verglüht – idealiter wohlgemerkt, idealiter.

Donnerstag, 8. Dezember 2016

Franz Hörmann, der Außerirdische


Hätte ich einen Leibwächter, ich nähme ihn mit auf die Reise und zeigte ihm die Welt. Wien zum Beispiel wäre mir Welt genug, wenigstens für den Anfang. Wir gingen unverzüglich ins nächste Kaffeehaus und dort säße er schon, den Arm aufgestützt, und läse den Standard. Ich jedenfalls trau’ ihm das zu. Fragte man ihn nach seinem Beruf, so gäbe er vermutlich zur Antwort: Standards setzen. Franz Hörmann (von ihm will ich reden) hat das Standardmodell der Geldtheorie an den Nagel gehängt und verkauft ein anderes, wobei es ihm weniger auf die Theorie als auf die Praxis ankommt. Das geschah vor längerer Zeit und seither ist sein Modell Standard.

Mittwoch, 7. Dezember 2016

Der Aufbruch

Steuerzahler ins All

Unbegreiflich scheint die Drohne,
wenn sie über Städten kreist,
wo die Massen leben ohne
das Gefühl der Sicherheit,

das sich einstellt in den Zentren,
wo die Täter sanft entschlummern
im Gefühl vollbrachter Tat,
da nach arbeitsamen Stunden, 
flott gejoggten Aschenrunden
– hinterdrein das heiße Bad –
sie ein Gähnen überwältigt
und der Muskel sich entkrampft. 

Montag, 5. Dezember 2016

Mit Schmäh, Schmarrn und Methode


In Österreich haben sie das Problem, dass die Nazis sagen, wir sind keine, während die Nicht-Nazis sagen, wir haben damit ein Problem. Das hängt damit zusammen, dass in diesem Land jeder auf einen anderen zeigt, wenn er sich selbst meint. Man könnte demnach herausbekommen, was den österreichischen Nazi ausmacht, indem man jeweils die Richtung, in die einer zeigt, umkehrte. Damit hätte man den Paradefall einer vollkommen selbstbezüglichen Nation, die sich abwechselnd ›Nazi‹ und ›Anti-Nazi‹ schilt. Dass dabei nichts herauskommen kann außer ein wenig Abwechslung, liegt auf der Hand. Die Wiener Art – manche sagen: Abart – der Abwechslung heißt bekanntlich Schmäh. Wer keinen Schmäh führt, der ist auch niemand. Et vice versa.

Ins Horn gestoßen


Stoßen Sie niemals, ich bitte Sie: niemals ins gleiche Horn. Warum nicht? Es ist mit Sicherheit das falsche. Zum Beispiel war es in den vergangenen Monaten üblich, den dann doch republikanischen Präsidentschaftsbewerber der USA mit wüsten Schmähungen zu überziehen. Natürlich haben Sie mitgemacht. Jetzt kommt er ins Amt und Sie haben den Salat. »Aber die anderen auch!« rufen Sie entsetzt. »Was soll ich machen?« Ja die anderen. Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Da schreiben sie sich die Finger wund, dass es eine Wonne ist. Worüber? Oder besser: womit? Mit jenem flauen Gefühl im Magen, das ihnen sagt, es ist vorbei, wenn sie die Kurve nicht kriegen: ein neuer Präsident! Der Führer der freien Welt! Vielleicht will er nicht führen, wer weiß das schon, aber er wird, ganz sicher, führen müssen. Und dann? Was verlangt das Lager der Geführten? Loyalität. Kritische Loyalität, gewiss, doch wer es mit der Kritik zu weit treibt, der ist schneller entsorgt als so ein Morgen graut. Graut Ihnen vor dem Morgen? Dann sind Sie auf dem richtigen Pfad.

Samstag, 3. Dezember 2016

Politischer Burnout


Im Grunde ist alles ganz einfach: 80 Mio : 1, da konnte nichts weiter herauskommen als Wer sonst, Wir haben doch keinen, Wer wenn nicht sie? Vor allem, wenn man bedenkt, dass diese 80 Millionen, Kinder und Greise inbegriffen, doch alle irgendwie idealiter Unionswähler sind, sozusagen als Dritt- und Schattenwähler, gleichgültig, was sie sonst alles unterstützen oder am Laufen haben, – sie ist nun mal von Adenauers Zeiten her die Staatspartei und alle anderen sind … psst! Stimmenjäger wollte da jemand sagen, ein mühsames Geschäft übrigens, und: undankbar.

Freitag, 2. Dezember 2016

Die Kritik entlässt ihre Kinder


Sorry, Siebgeber, sorry, alles auf Null: Wer so die Maus angeht, sie geradezu als Sündenbock präpariert, sollte Ross und Reiter nennen, bevor sie im Morgengrauen verschwinden. Die Computermaus, im Land der Begriffsstutzigen lange Zeit zwanghaft ›Mouse‹ geschrieben – erinnern Sie sich? –, vermutlich, um die Sache nicht vom Schwanz her anzugehen, ist ein Segen für die Menschheit, das Sich-Verschreiben hingegen ein Fluch. Wer verschreibt sich denn? Nur der, der’s nötig hat.

Donnerstag, 1. Dezember 2016

Kurze Phobographie oder: Angst essen Drittmittel auf


Als die Wissenschaft von abergläubischer Furcht erfüllt wurde und beschloss, es müsse etwas aus ihr herauskommen

Hier kommt die Angst. Sie hat es schwer.
Der Eifer treibt sie vor sich her.
Was eifert er? Was will er zeigen?
Er will gefallen. Wem? Dem Frager? Nein.
Selbst wenn er’s wollte, wär’ er nicht bereit.

Montag, 21. November 2016

How to make America great again


Siebgeber, sagte ich mir, so geht das nicht, und ich huschte hinaus, die erleuchtete Quadriga über mir und die Pfützen des November unter mir, aufglänzte der Große Stern, der Westen hatte mich wieder… Ein Traum ging mir durch den Kopf, ich hob die Augen empor zur Siegesgöttin, erwartete ihre Flügel zu sehen, die dicken wulstigen Bögen, und da … und da … kein Anblick, keine Erscheinung, eher the real thing: ich sah, zur Säule erstarrt, hoch in den niedrig ziehenden Wolken The Donald aus reinstem Gold, sprühend im Nieselregen, eine Fata Morgana, zweifellos, in meinen Breiten?

Samstag, 19. November 2016

Der Elitendiskurs und seine Nutznießer

Bevor die tobsüchtige Rede vom Intellektuellen-Idioten weiter um sich greift, wie sie ein ›Philosoph und Finanzmathematiker‹ mit popular-publizistischem Drang jüngst in der NZZ skizzierte, sei hier ein kleiner Einspruch gestattet. Besagter Intellektuellen-Idiot, liest man in jenem Artikel, habe vorzugsweise an einer der Universitäten der Ivy League (oder einer ähnlich renommierten Elite-Einrichtung) studiert und den dort gelehrten Halbunsinn für sein weiteres Leben in Think-Tanks, Medien, Universitäten wie ein Löschblatt aufgesogen: Grund genug für den Verfasser, ihm auf immerdar das Vertrauen zu entziehen und auf Leute zu übertragen, die, wie offenbar er selbst, auf einer risikogesättigteren Basis ihr Leben verbringen, umgeben von wirklichen Menschen mit wirklichen Bedürfnissen und wirklichen Problemen in einer wirklichen Welt.

Donnerstag, 17. November 2016

Europas Warner

Einer der hellsichtigsten und verblendetsten Menschen, die je gelebt haben, Friedrich Nietzsche, sah die kommenden deutschen Niederlagen voraus und wollte dabei sein – was ihm mehr oder weniger gelang, als Stachel im Fleisch der Unterlegenen, die doch auch Gewinner sein wollten, und als Stichwortgeber der Wahnsinnigen, die das Land samt seinen und ihren Opfern in den Untergang peitschten. Nietzsches Andenken zerstören wollte die DDR, in einer dialektischen Volte gelang es ihr, sein Werk, durch die Bemühungen der italienischen Herausgeber Colli und Montinari von den Schlacken früherer Vereinnahmungen gereinigt, den interessierten Zeitgenossen mustergültig zu überantworten. So kann es gehen, wenn Denken verfügt wird. Die letzten irregeleiteten Schmuddel-Ururenkel des Philosophen sind womöglich jene Figuren der Nacht und der Internet-Anonymität, die ihren verunglückten Hass auf deutsche Autoritäten in Parolen und Handlungen ausmünzen, auf die der Ausdruck ›ehrlos‹ wahrscheinlich ebenso passt wie das Werkeln des Hufschmieds zum manipulierten Abgasmanagement eines modernen Mittelklasse-Autos.

Dienstag, 15. November 2016

Neues vom Hater

Sie sind nicht xenophob? Das ist gut, Sie sind ein zivilisierter Mensch, mit Ihnen kann man sich unterhalten. Wie sagten Sie? Sie haben etwas gegen Fremdenhass? Ja sicher, das sagten Sie schon. Es ist Ihnen ein Anliegen? Wem ginge das nicht so angesichts all dessen, was dort draußen abgeht! Sie hassen Fremdenhasser? Nun, Sie müssen sie ja nicht lieben wie sich selbst … das ist gar nicht nötig ... es sei denn, Sie sprechen aus christlicher Nächstenliebe. Dann allerdings…

Freitag, 11. November 2016

Nicht vermittelbar

»Steinmeier außer Rand und Band« (Cicero): – Um es deutlich zu sagen: der Außenminister eines Landes, der den mittlerweile gewählten Präsidenten des Staates, von dem der eigene in allen wesentlichen Lebensbelangen – politisch, militärisch, ökonomisch, kulturell – abhängt, im Wahlkampf öffentlich als Hassprediger attackiert, ihm anschließend die Gratulation zur Wahl verweigert und schließlich im Spiegel-Interview verkündet: »… je eher wir wissen, wer in der neuen amerikanischen Administration außenpolitisch Verantwortung tragen wird, desto eher sind wir - hoffentlich - in der Lage, Anlass zur Sorge zu nehmen«, – ein solcher Außenminister ist angezählt und als Bundespräsident in spe nicht länger vermittelbar.

Montag, 17. Oktober 2016

Macht Peter Brandt zum Bundespräsidenten

Zu den überragenden Verdiensten Willy Brandts wird man einmal seine drei Söhne zählen müssen, von denen einer als Schauspieler die Nation allabendlich mit den Schrecken ungesetzlicher Handlungen versöhnt, während der andere, als Historiker, die Schrecken der Geschichte, ohne ihnen ein Jota abzunehmen, als lebbare Mitgift der Menschheit behandelt. Denn tatsächlich blieb es dieser Generation vorbehalten, die Lebbarbeit der Geschichte neu zu erproben, insbesondere desjenigen Teils, den ihr die Vorgänger (und Vor-Vorgänger) hinzugefügt hatten.

Samstag, 15. Oktober 2016

Duell der Millionen

Haben Sie niemals einen Gegner wie diesen gesehen? Nein? Dann haben Sie niemals Geschäfte gemacht, wirkliche Geschäfte, wir verstehen uns, mit hohem Einsatz und hohem Risiko. Aber vielleicht ist so eine Erscheinung auch in diesen Breiten ein eher seltenes Gegenüber... Du wähnst es in einem der unteren Stockwerke, in denen man sich gegenseitig die Fresse poliert, um nach oben zu kommen, und es steht bereits in der Tür, du schimpfst es hässlich und es weicht aus, du verpasst ihm all diese schlimmen Bezeichnungen, die jeden Gentleman stolpern lassen, und es schlägt einen Haken, du vernichtest es und es finassiert, du schiltst es barbarisch und es spielt mit dir, du nennst es böse und es lullt dich in Sicherheit, du giftest und es gibt dir dieses törichte Überlegenheitsgefühl, um es im nächsten Moment zu zertrümmern, es weiß nichts, dessen bist du sicher, und es weiß alles.

Freitag, 14. Oktober 2016

Sollten Sie unterwegs einen Nobelpreis finden, heben Sie ihn auf

– er könnte noch einmal wertvoll werden. Nein, ich werde keine Vergleiche tätigen (›Literaturnobelpreis für Bob Dylan, das ist ja wie...‹) … keine Vergleiche! Er bekommt ihn und Udo Lindenberg nicht, darin liegt der Skandal. Wer ist Udo Lindenberg? Ah, diese heiß- und kaltgeliebte hundertjährige Nuschelmaschine, an deren grenzdebilen Texten sich die Pickelträger und Staatsratsvorsitzenden eines verflossenen Jahrhunderts labten – did you ever know him? Oh yes, I know him. Udo Lindenberg for president! Ach, er hat keine amerikanische Geburtsurkunde? Sorry, das wusste ich nicht. Muss man das verstehen?

Mittwoch, 12. Oktober 2016

Trump oder Die Maske des Entsetzens

Niemand bestreitet (im Prinzip), dass im syrischen Bürgerkrieg Verbrechen schrecklichen Ausmaßes begangen werden. Niemand bestreitet (im Prinzip), dass alle Seiten an diesem Verbrechensaufkommen beteiligt sind. Niemand bestreitet (im Prinzip), dass der fortgesetzte Bürgerkrieg, wie immer man seine Ursachen und Anfänge beurteilt, ein Verbrechen darstellt, begangen am syrischen Volk, also an den Bewohnern dieses unglücklichen Landes, denen das Leben (und Lebenlassen) wichtiger ist als die Durchsetzung einer abstrakten und bluttriefenden Doktrin. Niemand bestreitet (im Prinzip) die Namen der direkt und indirekt beteiligten Parteien. Niemand bestreitet (im Prinzip), dass dieser Krieg seine Terror-Ableger in die Zentren der westlichen (und östlichen) Welt trägt.

Dienstag, 13. September 2016

Europas Retter. Von Zäunen und Schnitten

Das EU-Narrenrennen nimmt, in gehörigem zeitlichem Abstand zum Brexit-Votum, wieder Fahrt auf. In einem Welt-Interview forderte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn den vorübergehenden oder notfalls endgültigen Ausschluss Ungarns aus der EU. Der Zaun, den Ungarn baue, um Flüchtlinge abzuhalten, werde immer länger, höher und gefährlicher. Ungarn sei nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge. Um dem zu begegnen, sollte nach seiner Vorstellung, möglichst mit tätiger Beihilfe der Ungarn, der EU-Vertrag geändert werden, damit die lästige Einstimmigkeit endlich vom Tisch kommt, ohne die in puncto Rauswurf nichts geht.

Freitag, 26. August 2016

Um ein Haar

Um ein Haar – ich sage nicht welches –! um ein Haar sage ich. Also gut. Ich den Türgriff noch in der Hand, da, der Anblick: drei Mädels, Eva, Meryam, Alva, zwei Jungs, Ben, Botho, ich sag, ich geh eine Zigarette rauchen, wenn ich wiederkomm, ist der Dreck weg, mal schnell in die Tonne, ihr wisst, wo sie steht. Geh dann doch nicht, etwas im Blick der Göre, flackernd, zorn- wie heiligmäßig, irgendwas stimmt da nicht, ich, anderen Ton anschlagend, nachfassend, beinah hüftig: Wasn los? Sie, ausspuckend fast: Sieht man doch.

Samstag, 20. August 2016

Niqab oder Hidschab?

Passantengespräch. Berlin-Wilmersdorf, 19. 8. 2016

»CDU raus aus dem Bundestag, Selbstauflösung, Nirwana. Wer das nicht begreift, der hat das Parteiensystem nicht begriffen.«
»Meinen Sie? Der Platzhirsch sollte sich…? Einfach in Luft...?«
»So ist es. Eine Partei muss verschwinden. Die Merkel-Partei steht für nichts, also muss sie verschwinden. Jedenfalls wäre es für alle das Beste.«
»Wofür, meinen Sie, steht die SPD?«
»Die SPD steht für eine Partei, die verlorengegangen ist und wiederbelebt werden sollte.«
»Also für die SPD.«
»So ungefähr.«
»Wieviel Stimmen geben Sie der AfD? Kann sie die CDU beerben?«
»Die AfD beerbt niemanden. Die AfD ist eine Kreatur, dazu bestimmt, der Kanzlerin das Regieren zu erleichtern.«
»Dass sie ihr Raum gegeben hat, sagen viele.«
»Sie hat ihr Platz gemacht, sie hat ihr die Parolen in die Hand gedrückt, sie hat ihr eine Aufgabe zugewiesen. Und sie gibt ihr die Existenzberechtigung.«
»Wieso das denn?«

Mittwoch, 17. August 2016

Wieviel Andersheit verträgt der Planet?

Im Juni dieses Jahres entschied der Bundesgerichtshof, die Frage einer Grundrechtsverletzung durch die Festlegung auf eines von zwei Geschlechtern im Geburtenregister stelle sich nicht (Az. XII ZB 52/15). Kommuniziert wurde diese Entscheidung in ZEIT ONLINE mit der beachtlichen Schlagzeile: »Bundesgerichtshof lehnt drittes Geschlecht ab.« Die Erfahrung lehrt, dass es höchst verschiedene Arten – und Formen – der Ablehnung gibt. Welche Art der Ablehnung mag dieser Titel suggerieren? Es soll Mütter geben, die es ablehnen, ein drittes Kind zur Welt zu bringen. Manche wiederum lehnen ihr drittes Kind ab – eine familiäre Katastrophe und eine lebenslange Bürde für den lieblos aufgezogenen Nachwuchs.

Dienstag, 16. August 2016

Trommeln in der Nacht




Hat eigentlich jemand in der letzten Zeit festgehalten, dass die Anti-Trump-Kampagne so ungefähr das Verlogenste, Unfairste, Niederträchtigste und Hinterhältigste ist, was in diesen Wochen und Monaten durch die Medien rollt? Man kann das ohne die geringste Sympathie für den Kandidaten der Republikaner feststellen, über dessen virtuelle, möglicherweise bald schon reale Regierungskünste die Welt offenkundig genausoviel weiß wie der hiesige Durchschnittsjournalismus über die Grammatikregeln der ihm von anderer Seite auferlegten Sprache – nämlich nichts.

Samstag, 13. August 2016

Religion: die Klassiker



Wer von einer Religion redet, muss von allen reden.
Wer von allen reden will, muss eine haben.

Gotthold Ephraim Lessing (1729 - 1781)

Montag, 8. August 2016

Das falsche Lächeln der Mona Lisa



1.

Als die große Ratlosigkeit ausbrach, 
stand eine Frau an der Spitze des Landes. 
Sie lächelte. Nicht viel, fast gar nicht oder, wie man so sagt: 
kaum merklich.

Was lächelt die da, fragten die Leute. 
Was lächelt die da, wo doch das Unbehagen 
in den Gesichtern nistet? 
Was lächelt die da, wo doch die Unruhe steigt? 

Die Leute fragten nicht viel, 
fast gar nicht oder, wie man so sagt: 
kaum merklich.

Eine Abmachung bestand
zwischen der Frau an der Spitze des Landes
und dem Volk der Bespitzelten:
Wasch mich nicht, aber mach mir den Pelz nicht nass.

Donnerstag, 4. August 2016

Forza cattolica

»Ehrlich gesagt, nie wäre ich auf die Idee gekommen, eines Tages dem Papst – the pontiff, wie ihn sein angelsächsisches Publikum gelegentlich mit einem Anflug von Sarkasmus nennt – ein sonniges Gemüt zu bescheinigen. Der Kontrast zum Dalai Lama lässt sich nicht einfach mit ein paar Weihwasserspritzern beseitigen. Er gründet tief in den religiösen Kulturen, die, zum Kummer mancher Zeitgenossen, nur im Plural zu überleben scheinen. Die eine Religion geht in die Tiefe, die andere in die Höhe, die dritte in die Weite, bei der vierten wird’s eng... Daran wäre nichts auszusetzen, wenn ihre Vertreter sich der Tonlage ihrer Botschaft ständig bewusst blieben. Ob, was aus Rom zu vernehmen ist, es mit den Interviews Seiner tibetanischen Heiligkeit aufnehmen kann, steht freilich auf einem anderen Blatt. – Sie hören mir zu?«

Freitag, 29. Juli 2016

Neues Europa oder: Rette sich, wer kann

Blickt man auf die Gesellschaft der Nationen, dann fällt auf, dass sich auch unter ihnen Moralisten der gehobenen und der gesenkten Braue finden, Moralisten von Geburt und solche, die ihre Lektion gelernt zu haben beteuern. Kein Zweifel, sie ergänzen einander, sie kommen voneinander nicht los, sie haben einander unendlich viel zu sagen – ins Gesicht, aber auch sonst, hintenherum, wenn einer Partei etwas stinkt oder der Einzelne besser schweigt. In solchen Fällen tritt das Kollektiv in Aktion, die üblichen Sender senden, die fleißigen Finger der Nation tasten das Feld der gängigen Überheblichkeiten ab, die kritischen Federn federn ins intellektuelle Abseits, die Helden des Geistes… Parlamente, getragen von historisch-geläutertem Hochgefühl, beschließen Resolutionen, die aus der Empörung der anderen Seite bereits Kapital schlagen, bevor sie Gelegenheit hatte, sich erkenntlich zu zeigen, Leitfiguren der Unterhaltungsbranche bekommen plötzlich Meinungen wie andere Leute Brechdurchfall und der eine oder andere zur Hälfte abgehalfterte Volksheld erhebt seine Stimme, als kehre er in den Kreis der Gemeinten zurück.

Mittwoch, 27. Juli 2016

Das Schweigen der Kassandren

Kassandra darf schweigen. Ihre Voraussagen haben sich rascher erfüllt, als sie selbst es für wahrscheinlich gehalten hätte.
Wovor sie warnen könnte, es ist Realität.
Ein Krieg, der keiner sein darf? – Alltag.
Dschihad auf europäischem Boden? – Alltag.
Ethnokulturell fundierte Gewalt auf europäischem Boden? – Alltag.
Gewaltbereiter Fremdenhass beiderseits der Demarkationslinie, die ›Fremde‹ und ›Einheimische‹ voneinander trennt? – Alltag.
Gespaltene Gesellschaften, zwischen deren Fraktionen das Denunziationsgebot herrscht? – Alltag.
Gesinnungs-Konformismus, der jedem freien Gedanken ins Gesicht schlägt? – Alltag.
Ein ›verantwortlicher‹ Journalismus, dessen oberste Mitteilungsregel lautet: Nichts gegen den Augenschein, alles gegen den Augenschein? – Alltag.
Ein mürrischer Staat, der Wohlverhalten anmahnt und für den Notfall rüstet? – Alltag.
Eine zerfallende Union, die nach dem Motto handelt: »Rette sich, wer kann!«  – Alltag.
Ein Karussell der Schuldzuweisungen, das sich von Anschlag zu Anschlag verheerender weiterdreht? – Alltag.

Die Realität bedarf Kassandras nicht mehr. Sie mit dem Spruch »Hab ich’s nicht gesagt?« hausieren gehen zu sehen, ist schwer erträglich. Was immer geschieht, es hat, jedenfalls fürs erste, seine Partei gefunden. Es ist dort angekommen, wohin es von Anfang an gehörte: im Parteienspektrum, wenngleich nicht im Parteienstreit. Das ist einerseits schlecht, denn es beraubt die Bürger des einzigen konstruktiven Mittels, Staat zu machen. Es ist andererseits gut, weil ihr Urteil gefragt ist: Sie müssen begreifen, wer wo welche Diskussionen – und damit Entscheidungen – blockiert.
Das Karussell der Bezichtigungen dreht sich leer: in ihm haben alle ›Recht‹. Welches Recht? Das Recht jeder Partei auf die halbe Wahrheit – nicht mehr, nicht weniger.
Eine Situation, in der die halben Wahrheiten ausgedient haben, signalisiert nicht das Ende der Parteiendemokratie, sondern ihren Neuanfang.
Wer zur nächsten Wahl geht, um sein Kreuz dort zu machen, wo er es immer machte, weil er es immer dort machte, ist schon kein Demokrat mehr (falls er es jemals war).
Ein Partei-Establishment, das auf ihn vertraut, hat die Situation nicht verstanden und die Situation holt es ein.
Ideologisch erstarrte, unflexible, realitätsleugnende Parteien verlieren den Rückhalt in der Bevölkerung und marginalisieren sich selbst.
Es ist Leichtsinn zu glauben, in kritischen Lagen stehe die Demokratie auf dem Prüfstand. In der Krise stehen die Parteien auf dem Prüfstand.
Nicht Wähler müssen sich rechtfertigen, sondern Parteien.
Nicht Wähler haben ›schlüssige Antworten‹ zu geben, sondern Parteien.
Nicht Wähler haben sich (nach Parteiwunsch) neu zu sortieren, sondern, sobald die Realität es erfordert, Parteien.
Das Recht jeder Partei auf die halbe Wahrheit endet dort, wo die andere Hälfte von allen ungesagt bleibt oder – unter der Flagge der Rechtgläubigkeit – als Abfall deklariert wird. Ein Parteienspektrum, das nicht die Wirklichkeit abdeckt, paralysiert den Wählerwillen an der heikelsten Stelle: im Entstehensprozess. Allerdings täuscht sich doppelt, wer denkt, hier ende die Demokratie und es beginne etwas anderes – eine andere Staatsform vielleicht oder ein anderes Regime. So leicht geht das nicht.
Erstens: Die ›etablierten‹ Parteien besitzen den Staat auch dann nicht, wenn sie seine Funktionen unter sich aufgeteilt haben. Gerade dann nicht, müsste man sagen, weil sie sich dadurch die demokratische Legitimation entziehen.
Zweitens: Demokratische Delegitimation kann schon deshalb nicht folgenlos bleiben, weil sie sich dort, wo sie eintritt, als wirklicher Prozess in der politischen Arena vollzieht und nicht nur als Gegenstand in den Kommentaren kritischer Zeitgenossen existiert. Es wäre ein Denkfehler zu glauben, der Demos diffundierte allein deswegen aus einem politischen System, weil ein Parteienoligopol ihm tendenziell die Wahlmöglichkeiten entzieht.

Der Demos denkt nicht daran zu verschwinden, vorzugsweise deshalb, weil er überhaupt nicht denkt. Wäre es anders, es gäbe kein Argument gegen die direkte Demokratie. Das Kernstück der parlamentarischen Demokratie ist die Repräsentation. Es wäre ein Gebot politischen Überlebenswillens, sie unter den gegebenen Verhältnissen einmal mehr zu durchdenken. Keine demokratische Instanz ist befugt oder ohne Selbstwiderspruch imstande, sie aufzuheben und in ein formales Gefolgschaftsverhältnis zu verwandeln. Ein solches Verhältnis, sollte es, mangels Wähler-Interesse und aus Parteien-Gleichgültigkeit gegenüber der ›Masse der Wähler‹, einmal eintreten, müsste von Grund auf korrupt sein, soll heißen, es würde durch Gesinnungsterror erzwungen (nach Beispielen wäre nicht lang zu suchen) oder durch ein Maß an Klientelismus erkauft, das sich mit den Interessen des Gemeinwesens nicht lange vermitteln lässt. Man hat Parteien innerhalb weniger Jahre aus den Parlamenten verschwinden sehen, die sich an letzterer Stelle überhoben. Schon deshalb wirkt die Gelassenheit, mit der die etablierten Parteien in Deutschland ihren demoskopischen Tiefständen trotzen, so, sagen wir … deplatziert.
Der Demos denkt nicht, er sieht – und wählt. Vielleicht ist dies seine umfassendste Definition: Er ist das Wahlvolk.

Tipp für Aufgeschlossene: Fürchtet nicht die Rufe der Kassandren.
Fürchtet ihr Schweigen.

Mittwoch, 20. Juli 2016

Die Gefahr / Das Mandat

Die Gefahr

Nach dem ersten Attentat besteht die Aufgabe darin, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Nach dem zweiten Attentat geht es darum, die voreiligen Schlüsse zu revidieren.
Nach dem zehnten Attentat geht es darum, die Zahl der möglichen Täter einzuschränken.
Nach dem hundertsten Attentat geht es darum, keine weiteren Attentate zu dulden.
Nach dem hundertersten Attentat geht es darum, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

Woher kamen die Täter?
Wer hat sie hergebracht?
Vor wem sind sie weggerannt?
Wer hat sie losgeschickt?
Wer bezahlt ihre Waffen?
Wer gibt ihnen Anweisungen?
Wer betreut die Hinterbliebenen?
Wer ist dieser Niemand und
wo schlägt sein Herz?
Für wen arbeitet sein Verstand?

Vor dem ersten Attentat bestand die Aufgabe darin, Kämpfer auszubilden.
Vor dem zweiten Attentat bestand die Aufgabe darin, Länder zu erobern.
Vor dem zehnten Attentat bestand die Aufgabe darin, den Kampf auszuweiten.
Vor dem hundertsten Attentat bestand die Aufgabe darin, den Bevölkerungen die Flucht zu ermöglichen.
Vor dem hundertersten Attentat bestand die Aufgabe darin, die Geflohenen in ihre zerbombten Länder zurückzuschicken.

Vor dem hundertzehnten Attentat erweist sich die Gefahr, die Aufgabe zu verfehlen, als groß.


Das Mandat

Die Abgeordnete findet kein Wort für die Schlachtopfer.
Die Abgeordnete will keine Schlüsse ziehen.
Die Abgeordnete findet Schlüsse gefährlich.
Die Abgeordnete findet, die Tätergruppe sei in Gefahr.
Die Abgeordnete ist für das Leben zuständig, nicht für den Tod.
Die Abgeordnete ist grün, weil sie will, dass das Meer blau ist.
Das Meer färbt sich rot.


Dienstag, 19. Juli 2016

Zeit des Deliriums

Die Türkei geht uns nahe. Wer diesen Satz angemessen erläutern könnte, mit allen Vorder- und Nachsätzen, er würde Erhellendes zur Deutschen Pathologie beisteuern, die, effektiver als die Regierenden, das Land im Griff hat. Nicht das Schicksal der Türkei geht ›uns‹ nahe, auch nicht die Leute, nicht das Land an sich – was dann? Man könnte meinen, es seien die Millionen Türken und Deutsche türkischer Herkunft (mit türkischem Pass), die unübersehbar in die Mitte der Gesellschaft und – noch vereinzelt – in ihre höheren Ränge vorrücken. Aber gerade sie haben die Türkei verlassen, aus Gründen, über die niemand zu rechten hat. Und diejenigen unter ihnen, die im ›Aufnahmeland‹ nicht recht Fuß fassen konnten, ›identifizieren‹ sich vielleicht mit den Verhältnissen in der Türkei, weil im Hintergrund der türkische Sender läuft und die Familienbande nach wie vor intakt sind – nahe geht den Deutschen, Migrationshintergrund hin oder her, das alles nicht.
Das Ganze ist, unter Liebhabern deutsch-türkischer Geschichte, keine Frage von Identifikation oder Ablehnung, von geheimer oder offener Seelenverwandtschaft, sondern Ausdruck einer paradoxen kulturellen Verschränkung. Sie ist unlösbar mit der Idee Europa verbunden – einer Idee, älter als die Konzeptionen des politisch vereinten Europa, der EU oder der westlichen Werte-Gemeinschaft. Diese Idee Europa ist innerhalb der deutschen Tradition untrennbar mit dem Begriff der ›Bildung‹ verbunden, einem nicht-exklusiven Blick auf Kulturen, dem die paradoxe Aufgabe zufiel, letztere aus ihrem Mittelpunkt zu verstehen und gleichzeitig in ihnen allen das ›Humanum‹, die gemeinsame menschliche Substanz am Werk zu sehen – ein Gedanke, dem die Hegelsche Dialektik auf dem welthistorischen Fuß folgt. Dieser nicht-missionarische, nicht-kolonialistische Blick auf die außereuropäischen Kulturen traf in der Türkei auf den fremden Freund: islamgläubig, jahrhundertelang als Bedrohung des christlichen Abendlandes verketzert, als Hüter der dritten monotheistischen Buchreligion von Aufklärern wie Lessing zum Widerlager eines ›vernünftigen‹ Religionsverständnisses erkoren, asiatisch, aber als Eroberer und damit nolens volens Erbe des alten Konstantinopel eine europäische Macht, despotisch, aber eben deshalb in einem versteckten Bunde mit den Mächten der Heiligen Allianz und dem wieder erneuerten Kaisertum, denen das religiöse Fundament des Staates ebenso unverzichtbar erschien wie der Menschenrechtskatalog den führenden Staaten der gegenwärtigen Weltordnung. Die Revolutionen von 1908, 1918 und 1920 haben die beiden Länder enger zusammenrücken lassen als das Militärbündnis beider Staaten im Ersten Weltkrieg erahnen lässt: Sie fügten ihrem Verhältnis das Vorbild-Nachbild-Schema ein, dessen bizarre Kehrseite gelegentlich in Sentenzen des heutigen Staatspräsidenten wieder aufblitzt. Und sie wiesen ihnen – mit bitterem Witz – verwandte, wenngleich deutlich unterschiedene Plätze im europäischen Mächtespiel zu.
Manches spricht dafür, dass der Deutsche Bundestag mit der Armenien-Resolution vom Juni 2016 in kultureller Hinsicht sein Konto überzogen hat. Ihren Initiatoren mag das gleichgültig sein, einige davon dürften keine Lust darauf verspürt haben, Reminiszenzen auszuloten, die sich dem klaren Belehrungsgestus in Sachen Völkermord widersetzen. Andererseits ist der türkische Druck seit langem spürbar: Wer jahrelang offen und versteckt Loyalität seiner Noch- oder Nicht-mehr-Staatsbürger auf dem Boden eines fremden Staates einfordert, muss früher oder später mit Gegenläufigkeiten rechnen. Was die türkische Gesellschaft – noch – im Protest zu einen scheint, erlaubt es im günstigen Fall, ihren hiesigen Ableger zu spalten und damit dem Auseinanderfallen der deutschen Gesellschaft entgegenzuwirken. Eines hingegen scheint sicher: Ob mit dem gescheiterten Juli-Putsch wirklich die Zeit des Deliriums beginnt, wie deutsche Kommentatoren überwiegend anzunehmen scheinen, oder die Säuberungen sich im Bett einer ›kalten‹ Präsidialdemokratie verlaufen, entscheidet sich nicht entlang den Linien deutscher Geschichte. In diesen Dingen verfügt die türkische Seite über weit größere Erfahrung und ein unvergleichliches Repertoire.
Neid? Doch wohl nicht.

Montag, 18. Juli 2016

Selbsternannt. Von Narren- und Zauberwörtern

Zu den Narrenwörtern des Westens gehört das Wort ›selbsternannt‹. Ein Attentäter, dessen Umfeld als ›clean‹ gilt – gleichgültig, ob er oder seine Komplizen oder seine Hintermänner etwaige Spuren sorgfältig getilgt haben, ob die Ermittlungsbehörden es aus Gründen der Staatsräson unterließen, die Öffentlichkeit über die wahren Zusammenhänge ins Bild zu setzen oder ob es sich in der Tat um einen jener legendären einsamen Wölfe handelt, deren Wolfseigenschaft sich abseits vom Rudel Bahn bricht –, ein solcher Einzeltäter muss über kurz oder lang damit rechnen, als selbsternannter Terrorist durch die Medien zu geistern, vermutlich, damit irgendeine Form der Ernennung greift, bevor über die Sache Gras wächst, und die Erwartung kommender Anschläge nicht das allgemeine Lebensgefühl eintrübt.
Gegen Selbsternannte, so die Legende, ist kein Kraut gewachsen. Man muss sie hinnehmen wie das nächste Gewitter: Singt, lacht und postet weiter. Tut so, als sei nichts gewesen. Das seid ihr den Getöteten schuldig. Allenfalls darf man Klage darüber führen, dass in jeder Gesellschaft eine ausreichende Zahl von drop-outs existiert, die immer wieder für Nachschub sorgen.
Doch kommen sie nicht nur vom unteren Rand der Gesellschaft. Genauer gesagt: Sie kommen von überall, wie das kurrente Beispiel eines zwar gewählten, gleichwohl ›selbsternannten‹, da autoritär regierenden Präsidenten belegt. Offenbar lautet ihr Motto ›Anything goes. Das ist vielen ein Dorn im Auge, vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien, die aus begreiflichen Gründen vor jeder Art von Selbsternennung zurückbeben, als werde sie unmittelbar mit Sendeverbot geahndet. Und zweifellos stellt jeder unabhängige ›Sender‹ von Nachrichten oder Meinungen für die öffentlich-rechtlichen und ihren ehrbaren Anhang eine Herausforderung dar. Darf man das? Darf man es wirklich? Und falls man es darf: Gilt dann auch, was hier, vermutlich ausnahmsweise, gedurft wurde?
Als Auslöser dieser Ängste ›gilt‹, wie bekannt, das Internet, dessen ›soziale Medien‹ die alten Mono- und Oligopole des Meinens und Dafürhaltens das Fürchten und die Bequemlichkeit lehrten. Was tun, wenn die Sendung eines ›Primärmediums kaum mehr bietet als den sekundären Aufguss dessen, was genauer und ›authentischer‹ bereits via Twitter zu lesen war? Gewiss, man könnte sich bedanken, aber so einfach liegen die Dinge nicht. Was, wenn auf den Seiten von Facebook etwas ›auftaucht‹, eine neue Realität, über die man dann – im ›wirklichen Medium‹ – zu berichten genötigt ist? Damit muss man rechnen. Wie rechnet man mit etwas, das unnachsichtig die eigene Marktposition aushöhlt, die eigene Arbeit gnadenlos deklassiert? Wie geht man mit einer Wirklichkeit um, die sich nicht wirklich um die Kanäle schert, auf denen sie einst zertifiziert wurde? Nun, man verwandelt sie in ein Format, ein irgendwie illegitimes, vor dem der Empfängerseite ein vernünftiges Grauen eingepflanzt wird: das Codewort für dieses Grauen lautet ›selbsternannt‹.
Das funktioniert, es funktioniert eine Weile, aber es funktioniert nicht immer.
Der Islamische Staat (IS) – auch er ein ›selbsternannter‹ – fordert Muslime in aller Welt auf, ihrer Glaubenspflicht nachzukommen und für die Sache des Islam zu töten. Das verstört, neben Nichtmuslimen und religiös Gleichgültigen, auch die Masse frommer Muslime, die ihre Glaubenspflicht keineswegs darin zu erblicken bereit sind, als Mörder und Selbstmörder zu enden und deshalb gewärtig sein müssen, irgendwann selbst unter die Opfer zu fallen. Viele macht es anfällig für allerlei Gedankengut, für Hintergedanken, die sie und ihre Position in der Welt betreffen, für Heuchelei und Hass, für prahlerische Bekenntnisse, für Duckmäusertum, und – hier und da – radikale Entschlüsse. In der Diktion der Dschihadisten ist ›Islam‹ kein historisch gewordenes, entfaltetes, in sich ruhendes Glaubenssystem, sondern ein Zauberwort, mit dessen Hilfe sie Täter rekrutieren – Menschen, bereit, aus Gehorsam Handlungen zu begehen, die durch keine traditionell-religiöse Moral gedeckt werden –, eine Gefolgschaft einfordernde und Wunscherfüllung vorgaukelnde Vokabel, mit der sie revolutionäre Machtphantasien auf ein riesiges Menschenpotenzial und die dazugehörigen geographischen Räume projizieren. Der Rest ist Strategie, gelegentlich auch Taktik. Wer darin eine besonders raffinierte Pointe der umfassenden Virtualisierung der Welt mit dem Effekt der ›Selbsternennung‹ zu erblicken wünscht, der möge dies tun – eigentümlich sinnfrei, auf eigene Rechnung und Gefahr.
Die Frage, wie labil Persönlichkeiten sein müssen, um als ›Einzeltäter‹ dieser Couleur in Betracht zu kommen, berührt sich mit der hier und da geäußerten Ansicht, es handle sich um sozial depravierte Menschen, denen, ähnlich dem Amokläufer, der verbrämte Selbstmord einen Abgang ›in Würde‹ verschaffe. Das mag im Einzelfall zutreffen oder nicht. Doch auch hier gilt: ein religiöses System, in dem durch wahllosen Massenmord Würde zu erlangen wäre, existiert nicht auf diesem Planeten. Allerdings muss einer schon die religiöse und menschliche Hohlheit des Appells durchschauen, um nicht als Gläubiger durch ihn infiziert und innerlich in Bedrängnis gebracht zu werden. Hier liegt die unheimliche Macht dieses wie jedes Radikalismus. Seine ideale Zielgruppe sind die Jungen, die Unbedarften, die Kämpfernaturen, die leicht Entflamm- und Verführbaren, die Tat-Träumer und hyperaktiven Weltveränderer, Personengruppen, auf denen alle Hoffnung der Welt ruht – und aller Abscheu, wenn es dann wieder zu spät ist. Wer sie an der Hand nimmt und zu welchem Ende: c’est la question. 
 

Sonntag, 17. Juli 2016

The turn of the screw. Zwischenbetrachtung

Karlheinz Deschner, der sich herausnahm, Religionsgeschichte als Kriminalgeschichte zu schreiben, brachte es doch kaum weiter als zur Geschichte der – allerdings monströsen – Verfehlungen einer welthistorischen Institution: der katholischen Kirche. Nicht im Traum wäre es ihm eingefallen, den einfachen Kirchgänger für die Machenschaften verblichener Kirchenfürsten und ihrer Helfershelfer haftbar zu machen. Allenfalls wollte er ihm die Augen öffnen, Aufklärung betreiben in jenem ältesten und unverfänglichsten Sinn, der sich aus dem Wort allem Missbrauch zum Trotz nicht ganz vertreiben lässt.
Noch weniger allerdings scheint Deschner der Gedanke in den Sinn gekommen zu sein, ein ›Volk‹, das heißt Millionen unterschiedlichster Menschen mit einerlei Pass und einer im zarten Schulbuchalter stets aufs Neue verpassten Geschichte komme als Träger eines sich von Generation zu Generation erneuernden Unrechtsbewusstseins in Betracht. Gleichwohl wäre er vermutlich nicht angestanden, ›die Deutschen‹ oder ›die Türken‹ oder ›die Spanier‹ oder ›die Engländer‹ oder wen auch immer mit den Abgründen der eigenen Geschichte zu konfrontieren. Wer stolz oder verwegen genug ist, sich und seinesgleichen eine Geschichte auf den Leib zu schreiben, der muss es aushalten, dass die ganze Geschichte auf den Tisch kommt – sei es, um den dummen Hochmut ein wenig zu beugen, sei es, um das Wissen um die Opfer der Geschichte, das heißt jener als Leitfossile apostrophierten und keineswegs namenlosen Täterfiguren und ihrer zahllosen Mittäter dem gezielten Vergessen zu entreißen, auf dass den Opfern wenigstens posthum ein wenig Gerechtigkeit widerfahre und der eine oder andere überlebende Täter seiner Strafe zugeführt werde, sei es, um der fatalen Kontinuitäten der Geschichte an der einen oder anderen Stelle Herr zu werden.
Wer so schreibt, der kann nicht umhin zu glauben, es lasse sich auf diese Weise ein den Machenschaften der Mächtigen gegenüber wacheres und wachsameres Bewusstsein erzeugen – und über das so erzeugte Bewusstsein vielleicht eine Welt, in der sie weniger sicher ihrem schier unersättlichen Tatendrang folgen. So denkt, wer schreibt, jedenfalls denkt, wer schreibt, so müssten auch jene denken, die er für seinesgleichen hält, nicht, weil ein Pass sie auf einen Nenner bringt, sondern weil sie schreiben. Vielleicht ist die Annahme ja auch richtig, wenngleich schwer überprüfbar. Allerdings gerät, wer schreibt, leicht in Fallen, die daraus resultieren, dass er in den seltensten Fällen handelt, es sei denn symbolisch – wogegen nichts spricht, solange er zwischen Handeln und Handeln zu unterscheiden weiß.
Eine dieser Fallen ist die des Moralisten, der sich an seinem Schreib-Schopf aus dem Sumpf der allgemeinen Verfehlungen zieht: er gegen sie, sie alle, die da gleichen Herkommens sind wie er, aber als nichtschreibende Zeitgenossen sich nur durch Leugnen eigener Mitschuld den Kollektivanschuldigungen zu entziehen wissen. Leugnen, vor allem, wenn es ein persönlich gutes Gewissen verrät, ist schlecht, es ist der Grundstoff des Moralisierens, es nützt nur einem und das ist nicht der Leugner. Bravsein ist besser und ein betroffenes Gesicht schadet nichts. Nach diesem Motto verfahren bei Betrügereien ertappte Konzerne – warum nicht ein Einzelner, der sich ebenso wenig entziehen kann, wenn die Geschichte eines Großkollektivs, genannt ›Volk‹ oder ›Nation‹ oder ›Europa‹ oder ›der Westen‹ und mittlerweile auch ›der Islam‹ auf seinem Rücken verhandelt wird, wie sich sein Urgroßvater oder die Großtante seines Lebensmittelhändlers dem Ruf des – keineswegs fiktiven – Staates entziehen konnte, als es galt, millionenfach in Schützengräben zu krepieren oder als lebende Phosphorfackel den patriotischen Phantasien von Schreibtischstrategen ein wenig Stoff zuzuführen?
Dumm nur, dass Bravsein dem Moralisten in den seltensten Fällen reicht. Vielmehr saugt er aus ihm jenen Honig, der ihm nicht nur das Schreiben versüßt, sondern auch das Leben. Denn in den seltensten Fällen ›weiß‹ das brave Bewusstsein, das geduldig erträgt, was über es verhängt wurde, dass jene Kollektiv-Entitäten wie ›Volk‹, ›Nation‹ etc. nichts weiter als Fiktionen sind, ›Konstrukte‹, bestimmt, das dumme Volk bei der Stange zu halten und ihm als Schicksal zu verkaufen, was unter Aufgeklärten nicht mehr bedeutet als ein Fingerschnipsen der rechten Hand oder das »Ich habs!« eines Spinners, der Probleme mit Frauen oder allgemein seiner sexuellen Orientierung hat. Es weiß es nicht, es kann es weder wissen noch glauben, weil es nicht seinem Empfinden entspricht, und es würde es auch nicht glauben, wollte sich jemand unterstehen, es ihm mehr oder minder ruppig beizubiegen.
Es weiß es nicht, aber seine studierende Tochter und sein studierter Sohn, sie wissen es wohl und niemand sage, den kühleren unter ihnen bereite es keine sadistische Freude, die Alten im Netz der Identitäten zappeln zu sehen und sie dazu als Rassisten oder Sexisten oder-was-auch-immer zu titulieren, während man selbst eine Zeitlang glaubt, fein heraus zu sein. Was den Jungen recht ist, das ist dem Moralisten billig. Es kommt ihm nicht in den Sinn, in sich selbst den Rassisten oder Sexisten zu sehen, der ein übles Spiel mit seinesgleichen spielt, nur weil er unfähig ist, sich als seinesgleichen zu betrachten. Nennen wir es die Unfähigkeit zur moralischen Reflexion, nennen wir es, wie wir wollen: Wer sich etwas herausnimmt, der muss auch etwas hineinlegen, wer sich herausnimmt, der nimmt sich selbst etwas, dessen er im ganz normalen Leben bedarf, um zu überleben – Seriosität. Es ist ein schäbiges Spiel und es erfreut seine Spieler. Aber es tötet Gesellschaft.

Ja, das ist eben schade.
Das ist das riesig Fade.


Die Hüter der Stereotype

Wann immer eine irreguläre Gewalttat oder eine Ballung endemischer Gewalt Zutritt zum öffentlichen Bewusstsein erlangt, prallen die Sprache der politischen Korrektheit und ihr Gegenbild, die öffentliche und private Hass- oder Wutrede, aufeinander. Zweifellos handelt es sich um ein Ritual, dessen wenig geheime Bedeutung darin besteht, ›das Schlimmste‹ zu verhüten: das Überspringen der Gewalt in die allgemeine Praxis oder in eine ›neue Dimension‹, wie es euphemisierend bei den Verantwortlichen heißt.
Political correctness und hate speech: begriffslogisch handelt es sich um korrelative Begriffe, einst geprägt, um einer linksliberalen Politikauffassung das Navigieren in einem von sozialer Ungleichheit und ideologischer Borniertheit geprägten Umfeld zu erleichtern. Das ist lange her. Heute gehören sie zum Schmäh-Vokabular einer entgleisenden Debattenkultur, in der die Erregung konsequent das Argument dominiert. In ihrem strikten Wechselbezug sind sie Varianten der Stereotypen-Rede, deren Muster und Wirkungsmechanismen jahrzehntelang systematisch erforscht wurden, ohne dass die Ergebnisse dieser Arbeit sich jemals auf die öffentliche Sprechtätigkeit ausgewirkt hätten. Sicher liegt das auch an der Vielzahl von Studien, in denen Stereotype vorrangig mit Vorurteilen, Hass und struktureller Gewalt in Verbindung gebracht werden. Wissenschaft schützt nicht vor Parteilichkeit: Stereotype sind stets die der Anderen.
Etwas daran ist zweifellos wichtig – und richtig. Schließlich dienen Stereotype der Abgrenzung vom jeweils Anderen, die mittelbar in Kontrolle übergeht. Wer einmal ins Schema fällt, kann identifiziert, isoliert und auf Distanz gebracht werden. Das lässt sich verbal oder dinglich ins Werk setzen: durch klassifizierende Herabwürdigung, durch physische und psychische Demütigung, Bestrafung, Missachtung, durch sozialen Tod, durch manifeste Ausgliederung wie Haft, Abschiebung, Ghettoisierung, schließlich durch Proskription und Markierung im Hinblick auf künftige Auseinandersetzungen. Wer den Gegner kontrolliert, kontrolliert in der Regel auch die eigenen Leute, soll heißen, er schreibt ihnen vor, welche Empfindungen, Bilder und Worte ihnen einfallen, sobald sie über ihr Gruppen-Wir zu kommunizieren beginnen.
So weit, so bekannt. Weniger bekannt scheint zu sein, dass die Aufrechterhaltung von Ordnung, sofern sie, von normaler Polizeiarbeit abgesehen, allein oder überwiegend mit Hilfe von Stereotypen gelingt, allen Bedenken zum Trotz den milderen Regimen zugerechnet werden muss. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Stereotype, hinter denen keine unmittelbare Gewalt droht, sich in der Praxis nicht ungebremst durchsetzen lassen. Sie werden, je nach den Erfordernissen des Alltags, zurechtgeschliffen, interpretiert, beiseitegeschoben, gelegentlich ins Gegenteil verkehrt, ohne dass es dazu einer förmlichen Aufhebung bedürfte. Und sie müssen sich der Konkurrenz der Argumente stellen, wann immer die konkrete Situation es erforderlich macht. Natürlich weiß das die Mehrheit. Doch der Doppelcharakter der Hassrede treibt die Parteien unweigerlich gegeneinander und verschließt die Einsicht in das, was als spontane Einsicht dem Spiel der Stereotype zugrunde liegt. Diese Einsicht ließe sich folgendermaßen zusammenfassen: Erst das Gruppengefühl lässt den Einzelnen über sich hinauswachsen und verleiht ihm die Stärke, die zur Bewältigung größerer Daseinsprobleme vonnöten ist. Die Gruppe wiederum ist stärker als jedes Hindernis auf dem Weg zum besseren Leben – und sei es der Tod. Der ›Kampf‹ der Gruppe – nicht ums Dasein, sondern für eine angenehmere, bedürfnisoffenere, bedarfsgerechtere, selbst-gerechtere Welt – eröffnet das ›bessere‹ Leben, dessen bedeutendster Teil im Hochgefühl liegt. Stereotype sind, anthropologisch gesehen, Kodifikationen dieses Hochgefühls.
Der Primat des Sozialen kommt nicht von ungefähr. Gleichgültig, ob man seinen Ursprung in der Jagdgemeinschaft und den räuberischen Instinkten der Kleingruppe, in prototypischen familiären Bindungen oder in den Notwendigkeiten der Arbeitsteilung, in den hierarchischen Strukturen von Großorganisationen oder in der Angst des Einzelnen vor dem Unbekannten verankert sieht – das Ergebnis bleibt immer dasselbe. Gemeinsam sind wir stärker. Dieser Satz ist vielleicht die erste und mächtigste aller Stereotypen. Gewiss liegt er allen anderen zugrunde. Man versteht wenig oder nichts von Religionen, wenn man sie als einen Mix aus überkommenen Glaubenssätzen und archaischen Praktiken ansieht, die unbegreiflicherweise und zum Schaden ihrer Anhänger der Erosion durch neue Erkenntnisse und vor allem durch die Zeit selbst trotzen. Während zum Beispiel der Nationalstaat mit seiner bekannten Tendenz, sich Religionen gefügig zu machen, auf ein Territorium und eine gemeinsame Geschichte angewiesen ist, um zu überleben und sich zu behaupten, genügt den Frommen die Ursprungsrede, der gemeinsame ›Quell‹ ihrer Überzeugungen, um zueinander zu finden und ›stark zu sein‹ – auf welchem Boden auch immer. Wer daraus schließen will, dass Religionen stärker sind als Nationen oder postnationale Standards, möge das tun. Auf Zeit gesehen – wie sonst? – handelt es sich wohl eher um ein totes Rennen, bei dem ›am Ende‹ alle wieder miteinander auskommen müssen. Was die Ewigkeit angeht – nun...
Immer wieder zeitigt der Primat des Sozialen groteske, entsetzliche und tragische Ergebnisse. Die liberalen Gesellschaften sind gewarnt: zu seinen schauerlichsten Hervorbringungen zählt der Sündenbock, die erbliche Fratze aller ›Kultur‹, und mit ihm der Pogrom. Doch es gibt weitere – bis hin zum kulturell verhängten Selbstmord einer Gruppe oder ganzer Populationen. Ein zu bedenkendes Beispiel wären Gesellschaften, die zerfallen und sogar absterben, sobald Ressourcen versiegen, auf deren Ausbeutung ihr Selbstbild oder das einer ihrer führenden Schichten beruht. Es marschiert sich leichter in den Ruin als in die Namen- und Gesichtslosigkeit. Apropos: zur Gesichtslosigkeit zählt auch die Geschichtslosigkeit. Es ist stets nur ein kleiner Teil einer Gesellschaft, der über wirkliche Geschichtskenntnisse verfügt. Der Rest fügt sich den Stereotypen und verstaut darin, was man ihm beigebracht hat. Die stereotype Geschichte bändigt die Gesellschaft in der Mitte und lässt sie an den Rändern ausbrechen. Das Spiel der Stereotype führt sich selbst die Opfer (und Helden) zu, die es zu seinem Überleben benötigt.
Es besteht kein Grund, sich über die Anderen zu erheben.

(Erstmals: Globkult, 11. Juli 2016)

Samstag, 9. Juli 2016

Das vergisst sich leicht

Vergessen schmerzt nicht, es schadet nur – tröstliche Botschaft für alle, die sich in den Kopf gesetzt haben, die Welt zu verbessern, ohne sich gründlich mit ihr auseinandergesetzt zu haben. Auseinandergesetzt? Wer hätte sich nicht –? Nichts, wenn man sich umhört, geht den Mitmenschen leichter von der Hand als sich ›auseinanderzusetzen‹. Fast jeder hat es irgendwann getan, die meisten sind gerade, soweit ihre begrenzte Zeit es zulässt, im Begriff, es zu tun oder wünschen es sich um ihr Leben gern. ›Ich setze mich gerade auseinander‹ – ein erstaunliches Bekenntnis, lieber wünschte man der betreffenden Person, sie säße gerade gemütlich beieinander. Und tut sie es nicht? Warum klaffen Selbstaussage und Fremdwahrnehmung gerade hier so hemmungslos auseinander?
Man ist geneigt, der Frage nachzugehen, vorausgesetzt, sie führt nicht zu tief in die Psyche der betreffenden Person hinein. Wirklich gibt es dafür keinen besonderen Grund, denn es handelt sich um gesellschaftliche Rede, bei der die individuelle Psyche ein bisschen pausiert. ›Auseinandersetzung‹, jedenfalls in der reflexiven Form (›sich...‹) ist das A und O der Informationsgesellschaft. Informiert ist, wer sich auseinandergesetzt hat. Wer sich informiert, der setzt sich auch auseinander, jedenfalls dann, wenn es nicht ›bloß oberflächlich‹ geschieht. Auseinandersetzung geht demnach in die Tiefe, nicht nur in die Breite, sie besitzt eine dritte Dimension, sie beansprucht Raum, mehr Raum als üblich, das sagt schon das Wort. Was sagt es noch? Wer sich auseinandersetzt, der beansprucht nicht allein Raum, er beansprucht auch Platz – leeren Platz, den er zwischen sich und den Gegenstand schiebt, als sei letzterer ansteckend und man selbst auf der Hut. Vor was? Vor Ansteckung natürlich. Nichts erscheint so natürlich wie diese Auskunft, nichts so frei von Selbstzweifeln, nichts so unbedacht, so dass man sich unwillkürlich fragt, wie es möglich sein kann, dass gerade sie als Standardformel für das Bedachthaben sich durchsetzen konnte.
Was hat die Auseinandersetzung mit dem Vergessen gemein? Vieles, wenn nicht alles, man könnte meinen, das eine sei eine Unterabteilung des anderen. Das liegt daran, dass, wer sich auseinandersetzt, kein gesichertes Wissen beansprucht – schließlich ist die Auseinandersetzung gerade in vollem Gange und dementsprechend sind alle Optionen offen. Sich nicht festnageln lassen – das ist, als gesellschaftliche Option, eine fast antichristliche Haltung und siehe, sie macht sich bezahlt. Ich könnte mich ein für allemal kundig machen – wer sagt mir, dass ich nicht gerade da einer falschen ›Kunde‹ aufsitze? Und angenommen, ich wäre so frei, es dennoch zu tun: Es ist diese Freiheit, in der die Kunde über kurz oder lang zur Sage, zur verkürzten Reminiszenz und zur Verwechslung führt und damit zurück in die ausgebreiteten Arme der immerwährenden Auseinandersetzung, die stets eine geführte zu sein beansprucht. Was zwischen mir und mir geschieht, findet sein Widerspiel im Gespräch. Etwas behaupten heißt nicht, dass man es weiß – nicht einmal, dass man es zu wissen beansprucht. Allenfalls heißt es, dass man es im Augenblick des Sprechakts meint – was im Hinblick auf das zweite Ich, mit dem man sich gerade in einer spannenden Auseinandersetzung befindet, nur bedeuten kann, dass zwischen mein und mein dieser bedeutende Unterschied klafft: Das Gemeinte ist nicht das Gemeinte, gerade nicht, es ist der Stoff, der die Auseinandersetzung zwischen mir und mir befeuert, bis sie irgendwann erlischt, weil die Rede-Ressourcen sich zum Ende neigen oder die Zeit, die allmächtige, ihr Veto einlegt.
Aber irgendwo in diesem Getriebe muss es das Wissen doch geben? Warum kommt es niemals heraus und klärt die Situation? Ganz einfach: weil das Meinen weiter ist als das Wissen. Das bedeutet nicht, dass es mehr wüsste – woher wohl? –, auch nicht, dass es einem künftigen Wissen vorarbeitete, sondern weil es Auskunft darüber gibt, wie die Menschen denken – wie sie ticken, um im Jargon der Meiner zu bleiben. Das zu wissen ist wichtig, weil es Führung erlaubt – Debattenführung, Menschenführung, Geschäftsführung, politische Führung... Hier also steckt das Wissen, deshalb kommt es nicht heraus: im verbalen Ups, im Das-habe-ich-gesagt? verbirgt sich der ganze Mensch, er ver- und entbirgt sich ganz nach Bedarf, vorausgesetzt, man versteht unter dem ganzen Menschen jenes lenk- und zuteilbare Wesen, das mitreden will und gern vernimmt, dass seine Meinung gefragt ist, nicht etwa sein Wissen, seine ›Expertise‹ – die auch gefragt ist, aber dafür gibt es Experten. Eine Expertenbefragung konzentriert sich, wie jeder weiß, auf wenige Punkte: »Stopp, das wollten wir wissen, das genügt jetzt.« Der Auskunftsautomat lehnt sich zurück und schweigt. Er hat zu alledem eine Meinung, er könnte sie äußern, er würde sich verheddern wie die anderen auch, es ist alles eine Frage von Zeit, Ort und Umständen. Die wahren Meiner sind Experten wider besseres Wissen, deren Leidenschaft mit der Unklarheit ihrer Erinnerungen konkurriert. In den Talkshows streiten die unklaren Erinnerungen um die besten Plätze im Bewusstsein der Nation. Forcierter kann man Vergessens-Training nicht betreiben.

Samstag, 2. Juli 2016

Brexit: Notfall der Souveräne

Wer auf Dummenfang geht, ist in der Regel um ein Wort nicht verlegen. Die Hälfte davon sind Schuldzuweisungen, der Rest Abwehr – Abwehr von Menschen, Analysen, Auffassungen, die nicht gefragt sind, denen zu folgen zu einfach wäre oder zu riskant oder beschämend oder nicht förderlich.
Vor allem der letzte Posten verdient die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Betrachters. Schließlich kreisen die Gedanken, die man politische nennt, unaufhörlich um alles, was sich als förderlich erweisen könnte. Das Freund-Feind-Schema macht daraus alles, was dem politischen Gegner – vulgo: Feind – Schaden zuzufügen vermag. Auf Kosten anderer leben, wer möchte es nicht? Vorausgesetzt, es fällt weiter nicht auf oder man kann es als eine altruistische Tat verkaufen. Im anderen Fall hat einer nicht weit genug gedacht und kommt auf die Strafbank.
Die Superreichen, die USA, England, die EU, Deutschland, die Deutschen, soweit sie in Betracht kommen oder sich Gehör zu verschaffen wissen, die rundum oder halbwegs Versorgten der Systeme sowie jene Menschenfreunde, die weltweit Menschen ihres Besitzes entledigen und dafür in Seelenverkäufern und Schlimmerem aufs offene Meer hinausschaffen, damit sie dort ersaufen oder von anderen Menschenfreunden gerettet werden, sie alle leben auf Kosten anderer und wünschen nichts dringlicher als diesen Zustand in alle Zukunft hinein zu erhalten.
Deutschland, von seinem Außenminister jüngst (in Foreign Affairs) als ›major power‹, sprich: Weltmacht bezeichnet, verdankt seine Rolle im Weltsystem der Europäischen Union. Da dies jeder weiß, der sich auch nur ansatzweise mit Politik beschäftigt, wissen es auch seine – heimlichen und offenen – Gegner. Es wäre naiv, solche Gegnerschaften zu leugnen, sie ergeben sich aus ökonomischen, kulturellen und geographischen Lagen und haben glücklicherweise in der Regel wenig gemein mit jenen Erb- und Todfeindschaften, die auf Gedenkveranstaltungen beschworen und schnell in finstere Vergangenheiten entsorgt werden.
Aus Anlass des Brexit wird das besonders deutlich: Soweit das Votum der Briten dem Programm der ›Vertiefung‹ der EU, das heißt dem von Deutschland im nüchtern kalkulierten Eigeninteresse vorangetriebenen Prozess der Eingliederung der europäischen Nationalstaaten in einen Staatenbund mit Tendenz zum Bundesstaat sowie der von Deutschland maßgeblich durchgesetzten (oder, je nach Blickrichtung, hintertriebenen) Flüchtlingspolitik gilt, taucht hier am Horizont der künftigen Dinge ein Rivale auf, den es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hatte.
Es wird sich, je nach Lage der Dinge, um einen friedlichen, selbst freundlichen ›Partner‹ handeln, zweifellos jedoch um einen politischen Rivalen, dem die erfolgreiche ›Weiterentwicklung‹ der verlassenen Gemeinschaft in dem Maße zum Dorn im Auge werden muss, in dem die Logik des Brexit, die Rückkehr zum uneingeschränkten Nationalstaat, sich in seiner Politik Geltung verschafft. Der Schnitt, der Großbritannien – oder möglicherweise bald England – von der EU-Entwicklung abtrennt, wird, wenn überhaupt, nur auf kurze Zeit Entlastung ins Geflecht der – noch – internen Spannungen bringen. Die inneren Angelegenheiten Europas werden auf der Insel auch weiterhin das nationale Interesse beanspruchen und in der Außenpolitik werden, nebst der überwältigenden Abhängigkeit von den USA, allein die Nato-Interessen als einzig übriggebliebenes formelles Band der Machtkonkurrenz die notwendigen Zügel anlegen. –
Die Würfel sind gefallen, wenn irgendwo weiter gewürfelt wird, dann um Ämter und Strategien, nicht um die Entscheidung selbst. Das Hepp Hepp der hiesigen Medien, soweit sie in den weltweiten Chor der Brexithasser und -leugner einstimmen, richtet sich nicht bloß gegen das Personal des Übergangs, mit dem man es noch eine Weile zu tun haben wird, es richtet sich mehr und mehr unverhohlen gegen den Souverän, der, zerrissen, wie das Land zwischen Brexiteers und Remainers nun einmal war, eine Entscheidung zu treffen hatte, auf dass sie gefallen sei. Die Frage, ob es klug war, dieses Referendum abzuhalten, die Frage, ob ›uns‹ das Ergebnis schmeckt, oder, noch geschmackloser, welche Minderbemittelten an den Urnen wohl den Ausschlag gegeben haben mögen, sie treten zurück gegenüber dem elementaren Umstand, dass, wer das Votum der Wähler nicht akzeptiert, sich als Gegner der Demokratie zu erkennen gibt und dem inneren Unfrieden das Wort redet.
Das verheißt nichts Gutes für kommende Konfliktzeiten im eigenen Land. Für heute bleibt anzumerken, dass, unter dem Deckmantel von Weltoffenheit und jugendbewegter Realitätsschelte, in den besinnungslosen Tiraden einiger Öffentlichkeitsarbeiter bereits eine Gegnerschaft anklingt, vor der sich die Deutschen, abseits aktueller Regierungspolitik, auch weiterhin sorgsam hüten sollten. Ansonsten gilt die Prognose: Gegen England wird Deutschland in Europa immer den Kürzeren ziehen. Die Frage ist nur, ob auf lange Sicht oder auf kurze.

Mittwoch, 29. Juni 2016

Vorwärts immer. Reifes vom Mundwerk

Ruckediguh, Blut ist im Schuh. Wieder ein Sommermärchen

 »... und, meine Freunde, lasst es euch gesagt sein und sagt es weiter: Lasst euch nicht einreden, dass euch der Schuh drückt! Es ist ein guter Schuh, mit einer Sohle, die weiß, wo es lang geht, mit einem Absatz, auf dem man auf der Stelle kehrt machen kann, wenn einem danach der Sinn steht, mit einem Oberleder, fein wie Feigengrütze, auf dem spiegeln sich alle Wunder der Welt! Freilich auch alle Ungereimtheiten, über die müssen wir reden, auch in Brüssel, auch in Bochum und Gelsenkirchen, selbst in Straßburg, selbst in Frankfurt, wenn’s sein muss, bei den Kollegen in den Vorstandsetagen, das ist doch klar, das ist unser Ziel, das ist unser Auftrag, das ist unsere Zukunft.
Lasset uns also reden, jeder an seinem Arbeitsplatz, jeder in seiner Kantine, jeder am Tresen, lasst es uns immer und immer wieder sagen: Dieser Schuh ist gut! Wer da glaubt, dass dieser Schuh ihn drückt, dem wollen wir sagen, immer und immer wieder: Einen anderen Schuh gibt es nicht! Und wer diesen Schuh ausziehen will, dem sagen wir ins Gesicht: Nicht mit uns! Denn, liebe Freunde, lasst es uns immer und immer wiederholen: Einen anderen Schuh gibt es nicht! Und wenn die anderen es nicht mehr hören wollen, wenn ihr es selbst nicht mehr hören könnt, wenn ihr meint, es hänge euch zu den Ohren heraus: Sagt es wieder! Legt eine Schippe drauf! Einen anderen Schuh gibt es nicht!
Denen, die euch verführen wollen, barfuß in die Wälder zurückzukehren, denen rufen wir zu: Nicht mit uns! Wir kennen eure Sirenengesänge, wir kennen eure dumpfen Parolen, wir kennen euer Stammtischgewäsch, wir kennen es aus der schuhlosen Zeit, die nun, den Anstrengungen unserer Vorgänger sei es gedankt, hinter uns liegen. Es gibt kein Zurück! Dieser Schuh wird getragen, diesen Schuh werdet ihr ertragen, solange! solange! solange! ein Tropfen Proletenblut in unseren Adern kreist. Lasst euch nicht beirren. Erkennt die Feinde des Volkes! Ihr erkennt sie zuverlässig am Genörgel. Lasst nicht zu, dass sie euch den Schuh kaputtmachen! Was mit Genörgel beginnt, das mündet früher oder später in Hass, in Erbitterung, in gesellschaftlichen Zwiespalt und – Klassenkampf. O ja! Bekämpft die Spalter, bevor sie euch spalten. Wer aber behauptet, dass dieser Schuh drückt, von dem müssen wir uns trennen. Und deshalb: Seid wachsam! Seid wachsam und...
Da ermahnen uns die Genossen von jenseits der Siebzig: Vorsicht! Ihr habt die Zeit nicht erlebt. Ihnen rufen wir zu: Na und? Sollen wir vielleicht erst noch achtzig werden, damit wir das Sagen zu haben? Nein, liebe Seniorinnen und Senioren – die fangen beide mit S an: S&S, nee Kinder –: Heute sind wir hier, weil wir das Sagen haben! Seht euch um! Seht euch gründlich um, denn jetzt sind wir eure Zukunft. Und wir lassen uns diese Zukunft nicht kaputtmachen. Nicht durch euch und eure sogenannte Nachdenklichkeit kaputtmachen. Von Nachdenklichkeit ist die Welt nie besser geworden. Denkt vor! Denkt weiter! Und wer da kommt und sagt, wir wären eine Seniorenpartei, dem rufen wir zu: Na und? Ist das schlecht? Müssen nicht alle ins Heim? Besser früher als später! Besser jetzt als nie! Diese unsere – sagte ich ruhmreiche? – Partei hat ihre Reife bewiesen ... an die Adresse der Besserwisser sei es gesagt: unter härtesten Bedingungen bewiesen! Wer ihr hier und jetzt diese Reife vorwerfen zu müssen glaubt, dem antworten wir ruhigen Gewissens: Besser einmal als nie! Besser einmal und nie wieder als nie und nimmer.
Um auf den Schuh zurückzukommen: Ja, ja, ja. Wir wissen, dass dieser Schuh drückt. Glaubt nicht, wir wüssten nicht, wo euch dieser Schuh drückt. Wenn wir sagen, es gibt keinen anderen, dann, das müsst ihr uns glauben, wissen wir genau, wovon wir reden. Wir wissen es und die da wissen es nicht. Wir tragen die Last der Welt und die da glauben, sie könnten das auch. Wir haben verstanden und die da glauben, sie verstünden auch etwas davon. Nichts haben sie verstanden! Lasst euch nicht anstecken von ihrer Unwissenheit. Seid froh, wenn ihr nichts davon wisst. Schuh ist Zukunft, Unbeschuhtheit Barbarei. Wenn euch der Schuh drückt, behaltet es für euch. Euer Schuh ist unser Schuh. Wir werden diesen Schuh nicht mehr ausziehen, nicht bis ans Ende der Welt. Auch das müsst ihr uns glauben und vieles andere mehr. Irgendwann, das verspreche ich euch – und ich gebe euch dieses Versprechen nicht allein –, irgendwann wird euch nichts mehr drücken. Ja, ihr habt richtig gehört: Dafür stehen wir! Die Zeit der Gerechtigkeit, sie wird kommen, ganz von allein, auf leisen Sohlen meinethalben, aber sie wird kommen. Dafür stehen wir. Dafür kämpfen wir. Daher: Lasst uns den Druck aushalten! Lasst uns zusammenstehen! Lasst uns nicht stehen! Lasst uns...«

Sonntag, 12. Juni 2016

Das Nationen-Spiel

Mein famoser Nachbar… ich hätte mich gleich erkundigen müssen, warum er die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestags als ›Deal‹ bezeichnete. »Ein Geschäft? Mit wem? In welcher Sache? Zu welchen Konditionen?« So hätte ich fragen müssen. Warum tat ich es nicht? Wie wenig weiß der einfache Bürger über die Beweggründe derer, die ihn vertreten, wie wenig begehrt er zu wissen! Und wirklich besteht ihre Aufgabe nicht darin, ihn zu belehren. Gerade nicht!
An dieser Stelle geht mir die eigentümliche Diktion des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump nicht aus dem Sinn, der als künftiger Präsident der Vereinigten Staaten unermüdlich bessere ›Deals‹ mit dem südlichen Nachbarn und anderen Staaten des Erdballs in Aussicht stellt. Wie man weiß, ist Herr Trump Geschäftsmann. Seine Diktion wie seine Denkweise stammt aus praxisgesättigter Überzeugung. Wie anders? Der Deal, den der Kandidat der Nation anbietet, besteht darin, dass er, als klassischer Selfmademan, sich bereits bezahlt gemacht haben will, bevor er in ihre Dienste tritt, anders als die von ihm geschmähte Konkurrenz, die sich für all das viele Geld erst revanchieren müsste, das bereits in ihr steckt und bis zur Wahl noch hinzukommen soll. In deutschen Medien wird dieser Komplex nur beiläufig gestreift, schließlich hat man hierzulande ein anderes System und ist daher, wie gewohnt, an Fragen der politischen Käuflichkeit weniger interessiert. Woran dann?
Alle Breitseiten aus der Türkei (um auf meinen Nachbarn und den von ihm registrierten ›Deal‹ zurückzukommen) zeigen, dass im Bundestag ein Nerv getroffen wurde. Aber welcher? Der Nerv der guten Nachbarschaft? Nicht nachvollziehbar (also ausgeschlossen). Türkisches ›Geschichtsbewusstsein‹? Was wäre, aus deutscher Sicht, Geschichtsbewusstsein anderes als Bewusstsein nationaler historischer Schuld? Nicht nachvollziehbar, soweit die deutsche Seite im Spiel ist (also ausgeschlossen). Es sei denn… Wir denken an den deutschen Erziehungsauftrag, immer und überall auf dieses Bewusstsein hinzuwirken, das aus den verklausulierten Formulierungen der Resolution so unübertrefflich hervorleuchtet. Kein massakrierter Armenier wird dadurch wieder lebendig, kein lebendiger türkischer Staatsbürger ein Gran schuldiger als zuvor.
Aber halt! Liegt vielleicht gerade darin der Deal? Haben nicht türkische Medien im ersten Überschwang der Empörung die Ausbürgerung deutscher Abgeordneter – und Staatsbürger! – türkischer Herkunft gefordert? Als Deutsche stehen diese Abgeordneten, dem Selbstverständnis dieses Parlaments entsprechend, ganz ohne Zweifel in der Kontinuität deutscher Schuld – alles andere gälte als naiver Ethnozentrismus, wenn nicht gar Rassismus.
Der Spagat, als Deutsche belehrt, als Türken unbelehrbar zu sein, scheint kaum anders auflösbar zu sein als durch die Hereinnahme der türkischen Schuld in den deutschen Schuldkomplex per Resolution. Von welcher Ausbürgerung war also in türkischen Medien die Rede? Der türkischen (ohne sachliche Grundlage, also imaginär)? Der deutschen (denkbar, aber illusionär)? In welcher Brust leben Deutsche und Türken derart tückisch-kreuzweise nebeneinander? Die Frage wäre eine Klärung wert, bevor die wechselseitige Empörung weiterbrandet, sprächen die begleitenden Morddrohungen nicht bereits eine andere Sprache.
Der türkische Staat sträubt sich, den völkerrechtlich festgeschriebenen Begriff ›Genozid‹ in seine Selbstbeschreibung aufzunehmen, und pocht in dieser Frage unbeirrbar und unerbittlich auf die Loyalität des Einzelnen gegenüber der Nation, wo immer sich ihre Angehörigen niedergelassen haben. Wer will, darf darin einen Skandal erblicken. Bemerkenswert ist es auf alle Fälle. Der Skandal im Skandal besteht darin, dass dieser Staat, zählt man die öffentlich getätigten Äußerungen zusammen, gewählte Repräsentanten einer anderen Nation als seine Vertreter zur Räson zu rufen und sogar zur Rechenschaft ziehen zu können beansprucht.
Kommt hier der Deal ins Spiel? Sollte dieses abgründige Verhältnis zwischen zwei Staaten, die durch vielerlei zivile und nicht-zivile Bande miteinander verflochten sind und die noch viel miteinander vorhaben, durch den Deutschen Bundestag sichtbar gemacht werden? Falls ja: aus welchem aktuellen Grund? Was hätte diese Resolution dringlich gemacht? Und nochmals: Worin besteht das Geschäft?
Nun ist der deutsche Bundestag nicht das erste europäische Parlament, das eine solche Resolution gefasst hat. Sie atmet gewissermaßen europäischen Geist, auch wenn einige Staaten, darunter einer mit großer kolonialer Vergangenheit, ebenso wie die USA aus mancherlei Gründen abseits stehen. Dieser europäische Geist ist leicht zu durchschauen: Es ist der alte Geist leerer Versprechungen, der die Türkei zugleich draußen und drinnen halten soll, es sei denn, sie wäre eines Tages devot genug, der eigenen Vergangenheit abzuschwören und sich vollständig zu europäisieren – was immer das dann heißen müsste. Den Europäern wird schon etwas einfallen. Man kann das ›schlimm‹ finden, doch es entspricht der historischen, geographischen, kulturellen und ökonomischen Schwellenlage der Türkei. Keiner der heutigen Akteure hat sie sich ausgesucht. Sie wird aber gelebt – und zwar von beiden Seiten –, wie der Merkel-Erdogan-Deal in der Flüchtlingsfrage gerade wieder beweist.
Wenn dieser Vertrag torpediert werden kann, dann im Bundestag. Auch in dem Fall erhöbe sich die Frage nach den Motiven. Aber vielleicht sollte er gar nicht torpediert, sondern, ganz im Gegenteil, für weniger offenkundige Zwecke benützt werden? Eine Türkei, die ihre Ordnungsvorstellungen in Europa geltend macht, wirft andere Fragen auf als eine, für die Europa als Ordnungsmacht Standards setzt. Dann allerdings wären die Betreiber der Berliner Şehitlik-Moschee in eine subtil gestellte Falle gegangen, als sie eilfertig aus gegebenem Anlass den zum Besuch angesagten Bundestagspräsidenten ausluden. Und nicht nur sie: An dieser Scheidelinie werden viele und wird mancherlei sichtbar werden. Für Publikum ist gesorgt.

Donnerstag, 9. Juni 2016

Deal and run!

»Der Armeniendeal spaltet die ganze Gesellschaft. Von rechtsaußen bis linksinnen: einig ist sich da keiner. Warum fasst der Bundestag solche Beschlüsse? Aus Trotz? Aus schlechtem Gewissen? Oder aus überbordendem gutem? Wahrscheinlich stimmt nichts von alledem. Was wissen wir über den Bildungshintergrund unserer Abgeordneten? Nichts. Oder sagen wir vorsichtig: sehr wenig. Ob einer zum Beispiel in Geschichte geschlafen hat, werden wir nie erfahren, und selbst wenn wir es ausschließen könnten, wüssten wir nicht, welche Lehrer er hatte. Lehrer! Das ist der Unterschied. Sie können einen Lehrer haben, bei dem Sie etwas lernen, und Sie können einen haben, der Sie alles verpassen lässt, auch wenn Sie aufpassen wie ein Luchs. Und ein Luchs müssen Sie schon sein, wenn Sie in den Bundestag kommen wollen. Sie müssen wissen, wann es sich ziemt, der Türkei auf die Füße zu treten, dass es knirscht, den Zeitpunkt müssen Sie abschätzen können, sonst haben Sie in so einem Gremium nichts zu suchen. Zum Wohle des Volkes! Andererseits: allzu helle müssen Sie dafür nicht sein, andere, die heller sind, helfen Ihnen schon auf die Beine. Solche Lichtgestalten braucht jedes Land, sonst sieht es düster aus. Wissen Sie, was ich mir gedacht habe? Die wahren Lichtbringer sind immer die anderen. Ein klein wenig religiöser Hintergrund kann nicht schaden, das hilft der Psyche, sich in fremde Kulturen hineinzudenken. Das Volk der Schuldiger als Möchtegern-Gläubiger, darauf muss man erst kommen. Jede Schuld trägt sich gemeinsam leichter, das ist ganz natürlich, da sieht man sich gern nach Schultern um, die noch frei sind. Und – sind sie denn frei? Mitnichten? Unser Volksvertreter ist schlau, sein Deal lautet: Helf ich deiner Schulter, hilfst du meiner Schulter. So denkt er sich das, bei all den Türken in diesem Land ein ganz plausibler Gedanke, wenn Sie mich fragen. Er trägt ja fröhlich Mitschuld, als Beigewicht wiegt sie praktisch nichts, das kann er schultern.«
So hörte ich diesen Morgen meinen Nachbarn tönen, er war vor die Tür getreten, um zu telefonieren – eine hässliche Angewohnheit, wenn Sie mich fragen, so weiß ich zwar, was er denkt, doch ich finde, er denkt zuwenig und schwätzt zuviel. Immerhin weiß ich nun, dass diese Resolution das Volk bewegt, und das ist viel. Wozu ... bewegt sie es? Es schien mir etwas wie Hohn in dieser Stimme zu liegen, nicht viel, aber vernehmlich, vielleicht auch nur Spott, darüber möchte ich nicht rechten. Sie, unsere Volksvertreter, wollen das Volk ja zum Nachdenken bringen, das ist ihr Anliegen, dafür wurden sie gewählt. Wenn, denkt so eine Abgeordnete vielleicht, die Türken draußen im Lande nicht über Geschichte nachdenken wollen, dann ist vermutlich ein wenig Nachhilfe angebracht. Ein kleiner Schuld-Diskurs mit doppeltem Boden und falschem Zungenschlag tut da Wunder. Auch eine diplomatische Entfremdung zwischen Ankara und der Regierung kann, wenn’s denn sein muss, nicht schaden, wir sind ohnehin verstimmt, dass unsere heitere Muse am Bosporus so wenig Anklang findet. Dann ist es aus mit der doppelten Loyalität! Jetzt rede ich schon fast wie mein Nachbar. Hört mir überhaupt jemand zu? Da haben sie halt das Lineal herausgeholt und dem Türken auf die Finger geklopft. Denn der Türke ist älter als so ein Jahrhundert und weiß schon, was er damals in unverbrüchlicher Schuldgemeinschaft mit uns verbrochen hat. Das nächste Mal gibt’s Onkel Sam eins auf die Finger, der wird schön bluten. Und erst die anderen! Sie kommen alle dran. Der deutsche Abgeordnete ist frei und er beschließt, was er will.


Mittwoch, 25. Mai 2016

Der Untergang der EU und ähnliche Petitessen

Die EU stirbt nicht an einem Tag, aber sie stirbt täglich. Unvergessen die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als die Eurosklerose in aller Munde lag: schon damals gut gebettet auf den üblichen Übertreibungen, auch wenn der Ton inzwischen schärfer geworden ist. Inzwischen? Dazwischen liegen die Jahre der EU-phorie, der Erweiterungs-, Vertiefungs- und Verschuldungsorgien, die in ebenso viele Sackgassen führten. »Vorwärts immer, rückwärts nimmer!« Vibriert da nicht ein Ton aus der Vergangenheit in der Luft?
Medizinisch betrachtet könnte man die EU unter die seltenen Organismen einreihen, bei denen die Sklerose bereits vor der Reife einsetzt. Zum Glück für ihre Bewohner ist sie kein Organismus. Natürlich nicht. Seltsamerweise fehlt diesem Gewirr von Institutionen, Initiativen, Ämtern, Gremien, Treffen, Beschlüssen, Verlautbarungen, ›Töpfen‹, Förderern, Parteigängern, Gegnern, Gewinnern, Verlierern, Heuchlern, Absahnern, Dienstgebäuden, Dienstwagen, Auslandsreisen, Wahlen, Plakatierungen und Internetauftritten nichts, wenn eines seiner ›Organe‹ leidet. Im Gegenteil: andere sehen darin ihre Chance und machen sich breit, ohne das leidende zu ersetzen oder ihm wieder aufzuhelfen. Zwischen Finanzkrise, Währungskrise, Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise, Einwanderungskrise, Grenzsicherungskrise, Glaubenskrise, Grexit, Brexit, Auxit, Populismus und autoritärer Versuchung werden weiter Verordnungen erlassen, Parlamentsdiskussionen geführt, Etaterweiterungen geplant, Gehälter kassiert und Sprüche geklopft, ohne dass ein Gebäude einstürzte oder ein Kommissar sich verhöbe. Und wenn schon: Wen würde es scheren?
Was als EU-Krise durch die Medien ›geistert‹ – also doch ›Geist‹! –, atmet denselben Geist wechselseitiger Pressung wie das aktuelle Flüchtlingsrückhalte-, Rückführungs- und Umverteilungsabkommen mit der Türkei. Statt so zu regieren, dass man die solide Mehrheit der eigenen Bevölkerung hinter sich weiß, sprühen Europas wankende Regierungen lieber Bilder vom drohenden Untergang Europas auf allerlei noch mit früheren Szenarien geschmückte Freiflächen, an denen das aufmerksame Auge des Publikums haftet – in trauter Eintracht mit ihren Herausforderern, die Untergang gegen Untergang setzen.

Man kennt das Verfahren aus früheren Krisen – kein Wunder, dass der eine oder andere Empörung atmende Bürger das Wort schon nicht mehr schreiben, geschweige denn buchstabieren kann. Wie denn auch? Ist Europa ein Schiff? Womöglich auf großer Fahrt? Wohin soll’s denn gehen? Ums Eck vermutlich, ans Büdchen, zum Zigarettenholen. Ruhig Blut: hat Europa ein Leck, dann läuft es vielleicht aus, aber auf keinen Fall voll. Und was da herausläuft … wird vielleicht nicht ohne Grund herausgelassen, nicht ohne Grund.
Aber das ist Zukunftsmusik, vorderhand ›kämpfen‹ alle um den Erhalt der Union, als gäbe es dafür eine Extraprämie. Von wem? Vom großen Bruder? Mag sein. Seine Ratschläge allerdings sind teuer, man muss sie sich leisten können. Nach der nächsten Wahl könnten sie noch teurer werden, das lässt manche TTIP-Herzchen heimlich erschauern.
EU-Europa, die kleineuropäische Lösung, ist in der Wirklichkeit angekommen. Was auf ewiges Wachstum angelegt war, auf Öffnung, Liberalisierung, Befreiung, Befriedung, Beglückung und Bewirtschaftung naher und ferner Regionen, stößt, wohin es auch blickt, an seine Grenzen. Und das ist wenig gesagt: Europa wäre nicht Europa, wenn es ›die Grenze‹ bei dieser Gelegenheit nicht neu erfände. Insbesondere die Tatsache, dass jede Grenze zwei Seiten hat, stürzt seine Regierungen in tiefes Nachdenken und manche von ihnen tiefer herab, als jedes Nachdenken es vermöchte.
Die einen ziehen Zäune, die anderen ihre Grenzkräfte ab: ein Erfahrungsrausch, in dem Räume neu erkundet, Besitzstände, innere und äußere, neu vermessen, ganz neue Bemessungsgrundlagen erarbeitet und Bewertungskriterien neu geschaffen werden, dass den Bevölkerungen Hören und Sehen vergeht, wenigstens diese beiden, denn das Denken wurde schon früher unter Mundschutz gestellt. Der deutsche Standpunkt, so ehrenwert wie ehrenhalber, sieht Grenzen nur außerhalb des eigenen Staatsgebiets vor: Andere mögen Grenzen haben, wir helfen ihnen, sie ein bisschen zu schützen (sofern sie uns helfen, sie vergessen zu machen). Schon das trifft auf herbe Kritik seitens unterbezahlter und von Entlassung bedrohter Weltbürger, die sich ihren Frust von der Seele schreiben, weil sie sie anders nicht zu Gesicht bekommen. Das kleine Österreich, als europäische Durchreiche in der Pflicht, verwechselt seit längerem ›Zaun‹ und ›Zorn‹ – wäre sein Englisch besser, könnte das nicht passieren.
Das bessere Englisch: Wer neidete es denen nicht, die es, inner- wie außerhalb der EU, im Munde führen? An ihm verlaufen sich die weltweiten Migrationsströme, als ballten sie sich andernorts nicht zu gebieterischer Höhe. Bei den Geldströmen kehrt sich das um. Es hat keinen Zweck, die zu kritisieren, die die Sprache aller gepachtet haben, gleichgültig, ob natural oder digital. Europa besitzt keine gemeinsame Sprache, es besitzt keine gemeinsame Denkweise, es besitzt keine Definitionsmacht, nach innen so wenig wie nach außen. Es kennt nur Mächte, Mythen – und Werte, soll heißen, es muss sich fallweise einigen, während andere längst handeln.
Das ist kein Defizit, das sich beheben ließ, sondern die conditio sine qua non eines jeden Gemeineuropa, das seinen Namen verdient – alles andere wäre ›Imperium‹. Europa ist, was es ist. Jene phantasmagorische Politik, die auf die große Erzählung vom finalen europäischen Zusammenschluss setzt – mehr, weiter, einiger, reicher, mächtiger, souveräner – frisst ihre Bürger, immerhin die einzige nachwachsende Ressource, die ihr zur Verfügung steht, wenn man vom Geld der EZB einmal absieht. Der entscheidende Fehler: Sie muss geglaubt werden. Es glaubt aber niemand mehr an sie, am wenigsten ihre Protagonisten. Europas ›Populisten‹ mögen sein, was sie wollen – und sie sind mancherlei –, vor allem sind sie enttäuschte Gläubige. Die Enttäuschung reicht tief, der alte Negativismus Europas, das dialektische Erbe, das Europa groß gemacht hat, rumort in ihr und verleiht ihr jene Legitimität, die man ihr dort gern abspricht, wo man das Hochwasser bevorzugt mit Rührbesen schlägt.
Die große Erzählung… Wäre sie noch so groß, hätte man sie im Westen nicht nach 1991 noch einmal notdürftig aufgefrischt, um die ›Osterweiterung‹ moralisch und machtpolitisch zu legitimieren, während die Beitrittsländer mit halbem Ohr dem Weihnachtsmann lauschten und dabei an all die glänzenden Spielsachen dachten, die sie, nicht ganz zu Unrecht, in seinem Sack vermuteten? An Ungarns Gulaschkommunismus jedenfalls, um dieses Beispiel herauszugreifen, wurde bereits das Sowjetsystem der Breschnew-Ära zuschanden. Und Polen… Nein, nicht Polen. Heute rührt Polen an den Nerv dessen, was EU-Europa, bei aller maskenhaften Heuchelei, stets sein wollte. Polen ist tiefstes Europa – was immer das für die Zukunft noch heißen mag. Das flachste Europa hingegen – wo soll man es suchen? Wer weit geht, geht meist in die Irre.

Sonntag, 8. Mai 2016

Endotugend und Exotugend

Es ist noch immer ein bestechender Gedanke – vielleicht der Bestechendste von allen –, dass ein jeder seinen Richter findet, der eine vor, der andere nach seinem Tode, der eine vor, der andere nach Erreichung der Pensionsgrenze, der eine vor, der andere nach vollbrachter Tat. Denn wo gerichtet wird, ist des Richtens kein Ende. Da strebt ein Immobilienunternehmer ins Präsidentenamt und wird bereits für sämtliche Torheiten und Verbrechen verantwortlich gemacht, die er nach seiner Wahl begehen könnte, falls er darauf Lust haben sollte, während die realiter begangenen Torheiten und Verbrechen frei herumlaufen und mit Fingern auf ihn zeigen, als wollten sie sagen: Überlegt es euch gut! Reicht euch unser Anblick nicht? Habt ihr wirklich Lust auf Neues? Nehmt uns, da habt ihr, was ihr wollt. – Am anderen Ende der Bedeutungsskala flattert Spaßvogel Böhmermann zwischen den Gitterstäben des Käfigs, den Justitia mit luzider Beihilfe einer echten Kanzlerin um ihn legt, und wispert aufgeregt: War ich gut? Bin ich ein guter Despotenschänder? Säßen die Mächtigen sicherer, wenn sie mir keine Scherereien bereiten müssten? Und wie geht’s jetzt weiter?
Weiter geht’s. Dass jemand nach einer bestens in seiner Brust- oder Handtasche versteckten Moral handelt und dabei gern in Kauf nimmt, dass die Leute mit Fingern auf ihn zeigen und rufen: »Ist der verrückt?«, kommt, gängiger Ansicht zuwider, deutlich häufiger vor als das öffentlich gern gezeigte Kontrastprogramm, bei dem einer auf Wassern wandelt und die Leute rätseln lässt, wie lang die Stelzen wohl sein mögen, auf denen er sich bewegt, während die Kinder in die Hände klatschen und »mehr, mehr!« rufen. Anders gesprochen: Was ich nicht weiß, macht dich nicht heiß.
Das Zeitalter der digitalen Kommunikation fügt, als zweiten Hauptsatz der Überzeugungsdynamik, einen weiteren Spruch hinzu: Was ich nicht genau weiß, davon will ich alle Welt überzeugen. Das wiederum hilft der Endotugend, der Tugend, die im Verborgenen wächst und wuchert. Es lässt die Exotugend, die Tugend out of the box, die sich, im Dienst an der Menschheit, welche bekanntlich keine Dividenden zahlt, stets auf der Suche nach neuen Wasserläufern befindet, zu ihrem Erschrecken kümmerlich in der Landschaft herumstehen.
Die langen Moralstelzen des Herrn Obama haben ihn durch die trüben Gewässer seiner doppelten Präsidentschaft getragen und nun, da er sie wegzuwerfen gedenkt, ist keiner da, der sie auffangen möchte. Exo ist out. Stattdessen drängt die bisher verkannte Endotugend nach vorn und fragt: »Habe ich nicht Geld genug gemacht, um für den Job gerüstet zu sein? Bin ich nicht gut? Bin ich nicht dran –«
Von dieser Sorte laufen viele herum.
Insofern rechnet es sich, wenn die Leute die Kandidatin, den Kandidaten bereits aus anderen Fernsehserien intim zu kennen glauben, einem verjährten Ehedrama im Weißen Haus zum Beispiel oder einer endlosen reality show. Es rechnet sich sinnigerweise am besten, wenn die Fassunslosigkeit überwiegt: »Nein!« »Der nicht!« »Der nie!« Die Leute nehmen die Rolle des Komikers für die Person, die jetzt an die Schalthebel der Macht drängt, vor allem, wenn sie überzeugend gespielt wurde. Das ist ganz normal, es wird ja auch nicht die Rolle bewertet, sondern die Frisur und das Betragen und der Gesichtsausdruck und der Anzug und ob es brutal zugeht – vor allem letzteres.
»Wie geht’s Bill?« »Wann geht’s weiter?« So lauten die aktuellen Schicksalsfragen einer großen Nation. Die amerikanischen Wähler dürfen sich aussuchen, welche Form der Geldmacherei sie für präsidiabler halten, und das Ergebnis wird, wie stets, die Welt verändern. Nichts anderes begehrt sie, die sichtbare Welt, und wie die Dinge im Moment stehen, scheint sie das Handaufhalten der Clintons für ungefährlicher zu halten als den Handschlag unter Geschäftsleuten. Was man sich merken sollte. Noch ––
Einen Eindruck, der sich bei alledem aufdrängt, hat der bei Spiegel Online vom Netzflüsterer zum Wahlforscher aufgestiegene Sascha Lobo vor ein paar Tagen in die überaus einfachen Worte gefasst: »... das Eingeständnis, selbst nicht wirtschaftlich erfolgreich zu sein, fällt schwerer als einfach zu glauben, dem ganzen Land ginge es schlecht.« Wie wahr: leichter fällt es, an der Gestalt des Globus zu zweifeln als daran, dass bei einem selbst alles rund läuft. Der Wahlforscher nimmt an, er habe damit die von Donald Trump ausgebeutete Mentalität ökonomischer Versager beschrieben. Dabei übersieht er nur die Differenz zwischen zwei Formen des Potenz-Glaubens, denen zwei unterschiedliche Weisen des Wirtschaftens zur Hand gehen: »Bin ich gut? Bin ich wirklich gut?« Und: »Die Burschen tun nichts für mich. Bin ich so unattraktiv? Nun gut, mir nach!« Der erste fragt seine Frau, der zweite … den Gatten (vielleicht).
›Korruption‹ lautet das Thema dieses Wahlkampfes – besser, man lässt es nicht zu nahe an sich heran.
Welcher US-Amerikaner am Wahltag ›eher potent‹ oder ›eher impotent‹ mit Herrn Trump fühlen möchte, das sollte man klugerweise der angesprochenen Wählerschaft überlassen. Die verrutschte Deutungs-Potenz von Medien-Gockeln, die sich dieser Sprache zu angeblichen Analysezwecken bedienen, reizt das Nachdenken schon eher.
Nein, sie sind nicht erfolgreich, die Welt-und-Zeit-Deuter, ehrlich gesagt, es geht ihnen, ökonomisch gesprochen, an den Kragen – und prompt versinkt für sie die Welt im populistischen Chaos. ›Selbsternannte‹, wohin sie blicken, man fragt sich, wo die ganzen Ernennungs-Behörden herkommen sollten, die nötig wären, das letzte Meinungsfürzchen durch Pöstchen abzusegnen, das da als Teufelsstunk hinausposaunt wird.
Trompete, das einzige Instrument, wie es scheint, das sich derzeit Gehör verschafft, ist auf einen einzigen modus eingeschworen, die forcierte Mitteilung dessen, was  alles man neuerdings nicht sagen, denken, schreiben dürfen soll, ohne rot zu werden und in den Abgründen des Bösen zu versinken. Vom Erwischten verlangt man die Leichenblässe des zur Strecke gebrachten Königsmörders im voraus. Er gilt als Gefährder. Und erwischt muss werden, darauf läuft in der öffentlichen Kommunikation gegenwärtig alles hinaus. Nur der Erwischte wird sichtbar, also: Werdet sichtbar (um zu verschwinden).
»Abschuss!« müsste von Rechts wegen unter jeder Meinungsäußerung stehen, welche die Häuser der Geschmacks- und Urteilsveredler verlässt – nur dann hätte sie Meinung, also Gewicht, »Erwischt!« unter jedem Kommentar, den sie sich bei der Leserschaft einfängt, »Erwischt!« über und unter jedem Blogger-Eintrag, über und unter jedem Netzorgan, das sich ohne den wärmenden Beistand des mainstream zu Wort meldet. »Erwischt!« könnte man als Leser sich selbst ins Gedächtnis schreiben, sobald einen das vertraute Muster ein weiteres Mal aus der Lektüre angrinst, aber dann hätte man zu viel zu tun und könnte sie – die Lektüre – gleich unterlassen.
Zwischen Er- und Entwischen muss, nebenbei, der Unterschied nicht sehr groß sein. Manchen Partei-Apostel, das Drogen-Säckchen im Gepäck, lässt man entwischen, fast bevor er erwischt wurde, bei Randgängern der öffentlichen Meinung scheinen Er- und Entwischen in einen actus zusammenzufallen, ein Politiker fällt womöglich in sich zusammen, ehe er erwischt wird, und wird nicht mehr gehört. Selbst Minister bleiben nicht von diesem morbus verschont. Stille herrscht auch, wenn die Erwischten nachlegen, es sei denn, das Aufbegehren fällt ins vertraute Schema und gestattet der Zunft, den Jux noch ein wenig länger auszukosten.
Ausgesonderte, in Mediengewittern Abgehängte, an die Wand Genagelte, Vorgeführte, Durchklassifizierte, Eingesargte, Weg-Gehämte leben länger, vor allem im Ausland, sie dürfen dort ganze Länder regieren und Koalitionen schmieden wie der gern vorgeführte Herr Órban, bei dessen Erwähnung die Sprache der Berichterstattung sich auf ähnlich krampfhafte Weise verzerrt wie die Gesichtszüge des Herrn Trump in den Kameraaugen der Pressefotografen. Wehe den ›Selbsternannten‹! Sie leben in der Vorhölle, die dem Christentum so lange gute Dienste leistete, so lange ihm an der Ausbeutung des letzten Hoffnungsschimmers noch etwas lag. Im Zeichen des Bösen ist selbsternannt, wer auffällig wird.
Das gilt selbst dann, wenn er mit absoluter Mehrheit regiert. Der modus negativus charakterisiert die Zeit der beginnenden Morgenröte, der Sichtbarkeit dessen, was noch im Schatten liegt. Nach dieser Maßgabe fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, was über kurz oder lang als common sense der Mietschreiber auf die verwirrte Leserschaft einprasseln wird. Wer immer dann zu den Entwischten zählt, man kann darauf zählen, sein Gedächtnis wird ebenso kurz sein wie die Leine, an der seine Gedanken schon heute laufen.

Die Endotugend als – um einen Dichter aus dem letzten Jahrhundert zu zitieren – Phänotyp der Stunde hat ihrem Widerpart voraus, dass sie nicht scheitern kann, weil ohnehin alle von ihr das Schlimmste befürchten. Sie kann versagen, das ist wahr, aber wer kann das nicht? Versagen ist menschlich, Scheitern verheerend. Sollte zum Beispiel – aus westlicher Sicht – dem arabischen Frühling und seinen Ausläufern eine Strategie zugrunde gelegen haben, so ist sie gescheitert – mit überaus sicht- und spürbaren Folgen. Erstaunlich, dass jetzt jemand (H. Clinton) an die Hebel der Macht drängt, dessen Handschrift in diesem Prozess des Scheiterns wirkungsvoll zur Geltung kam. Sind solche Leute Versager? Sind sie Nutznießer ihres Versagens? Nach welchem Code mag ihr schreibender Anhang den Geschäftsmann, der der noch amtierenden Regierung schlechte Geschäfte vorwirft, zum Gottseibeiuns stempeln?

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Was unterscheidet den ›selbsternannten Berufsrevolutionär‹ Lenin (o Sternstunde des berufsdeutschen Journalismus!) vom ›selbst ernannten‹ Staatskomiker Böhmermann? Beide kämpfen für das Gute: Da liegt er, der Unterschied, und keiner hebt ihn auf.