Kassandra darf schweigen.
Ihre Voraussagen haben sich rascher erfüllt, als sie selbst es für
wahrscheinlich gehalten hätte.
Wovor sie warnen
könnte, es ist Realität.
Ein Krieg, der
keiner sein darf? – Alltag.
Dschihad auf
europäischem Boden? – Alltag.
Ethnokulturell
fundierte Gewalt auf europäischem Boden? – Alltag.
Gewaltbereiter
Fremdenhass beiderseits der Demarkationslinie, die ›Fremde‹ und
›Einheimische‹ voneinander trennt? – Alltag.
Gespaltene
Gesellschaften, zwischen deren Fraktionen das Denunziationsgebot
herrscht? – Alltag.
Gesinnungs-Konformismus,
der jedem freien Gedanken ins Gesicht schlägt? – Alltag.
Ein
›verantwortlicher‹ Journalismus, dessen oberste Mitteilungsregel
lautet: Nichts gegen den Augenschein, alles gegen den Augenschein?
– Alltag.
Ein mürrischer
Staat, der Wohlverhalten anmahnt und für den Notfall rüstet?
– Alltag.
Eine zerfallende
Union, die nach dem Motto handelt: »Rette sich, wer kann!« – Alltag.
Ein Karussell der
Schuldzuweisungen, das sich von Anschlag zu Anschlag verheerender
weiterdreht? – Alltag.
Die Realität bedarf
Kassandras nicht mehr. Sie mit dem Spruch »Hab ich’s nicht
gesagt?« hausieren gehen zu sehen, ist schwer erträglich. Was
immer geschieht, es hat, jedenfalls fürs erste, seine Partei gefunden. Es ist dort
angekommen, wohin es von Anfang an gehörte: im Parteienspektrum,
wenngleich nicht im Parteienstreit. Das ist einerseits
schlecht, denn es beraubt die Bürger des einzigen konstruktiven
Mittels, Staat zu machen. Es ist andererseits gut, weil ihr Urteil
gefragt ist: Sie müssen begreifen, wer wo welche Diskussionen –
und damit Entscheidungen – blockiert.
Das Karussell der
Bezichtigungen dreht sich leer: in ihm haben alle ›Recht‹.
Welches Recht? Das Recht jeder Partei auf die halbe Wahrheit –
nicht mehr, nicht weniger.
Eine Situation, in
der die halben Wahrheiten ausgedient haben, signalisiert nicht das
Ende der Parteiendemokratie, sondern ihren Neuanfang.
Wer zur
nächsten Wahl geht, um sein Kreuz dort zu machen, wo er es immer
machte, weil er es immer dort machte, ist schon kein Demokrat
mehr (falls er es jemals war).
Ein Partei-Establishment, das auf ihn
vertraut, hat die Situation nicht verstanden und die Situation holt
es ein.
Ideologisch erstarrte, unflexible, realitätsleugnende
Parteien verlieren den Rückhalt in der Bevölkerung und
marginalisieren sich selbst.
Es ist Leichtsinn zu glauben, in kritischen
Lagen stehe die Demokratie auf dem Prüfstand. In der Krise stehen die Parteien auf dem Prüfstand.
Nicht Wähler müssen sich rechtfertigen, sondern
Parteien.
Nicht Wähler haben ›schlüssige Antworten‹ zu geben,
sondern Parteien.
Nicht Wähler haben sich (nach Parteiwunsch) neu zu
sortieren, sondern, sobald die Realität es erfordert, Parteien.
Das Recht jeder
Partei auf die halbe Wahrheit endet dort, wo die andere Hälfte von
allen ungesagt bleibt oder – unter der Flagge der Rechtgläubigkeit
– als Abfall deklariert wird. Ein Parteienspektrum, das
nicht die Wirklichkeit abdeckt, paralysiert den Wählerwillen an der
heikelsten Stelle: im Entstehensprozess. Allerdings täuscht sich
doppelt, wer denkt, hier ende die Demokratie und es beginne
etwas anderes – eine andere Staatsform vielleicht oder ein anderes
Regime. So leicht geht das nicht.
Erstens: Die
›etablierten‹ Parteien besitzen den Staat auch dann nicht, wenn
sie seine Funktionen unter sich aufgeteilt haben. Gerade dann
nicht, müsste man sagen, weil sie sich dadurch die
demokratische Legitimation entziehen.
Zweitens: Demokratische Delegitimation kann schon deshalb nicht folgenlos
bleiben, weil sie sich dort, wo sie eintritt, als wirklicher Prozess in der politischen
Arena vollzieht und nicht nur als Gegenstand in den Kommentaren
kritischer Zeitgenossen existiert. Es wäre ein Denkfehler zu
glauben, der Demos diffundierte allein deswegen aus einem
politischen System, weil ein Parteienoligopol ihm tendenziell die
Wahlmöglichkeiten entzieht.
Der Demos denkt
nicht daran zu verschwinden, vorzugsweise deshalb, weil er überhaupt
nicht denkt. Wäre es anders, es gäbe kein Argument gegen die
direkte Demokratie. Das Kernstück der parlamentarischen Demokratie
ist die Repräsentation. Es wäre ein Gebot politischen
Überlebenswillens, sie unter den gegebenen Verhältnissen einmal mehr zu
durchdenken. Keine demokratische Instanz ist befugt oder ohne Selbstwiderspruch
imstande, sie aufzuheben und in ein formales Gefolgschaftsverhältnis
zu verwandeln. Ein solches Verhältnis,
sollte es, mangels Wähler-Interesse und aus Parteien-Gleichgültigkeit gegenüber der ›Masse der Wähler‹, einmal eintreten, müsste von Grund auf korrupt sein, soll heißen,
es würde durch Gesinnungsterror erzwungen (nach Beispielen wäre nicht lang zu suchen) oder durch ein Maß an Klientelismus erkauft, das sich mit den Interessen des
Gemeinwesens nicht lange vermitteln lässt. Man hat Parteien innerhalb
weniger Jahre aus den Parlamenten verschwinden sehen, die sich an letzterer Stelle überhoben. Schon deshalb wirkt die Gelassenheit, mit
der die etablierten Parteien in Deutschland ihren
demoskopischen Tiefständen trotzen, so, sagen wir … deplatziert.
Der Demos denkt
nicht, er sieht – und wählt. Vielleicht ist dies seine
umfassendste Definition: Er ist das Wahlvolk.
Tipp für
Aufgeschlossene: Fürchtet nicht die Rufe der Kassandren.
Fürchtet
ihr Schweigen.