Zur Ökonomie der Illusion


Die Ökonomien der Illusion und des Vergessens sind eins.

Sonntag, 8. Mai 2016

Endotugend und Exotugend

Es ist noch immer ein bestechender Gedanke – vielleicht der Bestechendste von allen –, dass ein jeder seinen Richter findet, der eine vor, der andere nach seinem Tode, der eine vor, der andere nach Erreichung der Pensionsgrenze, der eine vor, der andere nach vollbrachter Tat. Denn wo gerichtet wird, ist des Richtens kein Ende. Da strebt ein Immobilienunternehmer ins Präsidentenamt und wird bereits für sämtliche Torheiten und Verbrechen verantwortlich gemacht, die er nach seiner Wahl begehen könnte, falls er darauf Lust haben sollte, während die realiter begangenen Torheiten und Verbrechen frei herumlaufen und mit Fingern auf ihn zeigen, als wollten sie sagen: Überlegt es euch gut! Reicht euch unser Anblick nicht? Habt ihr wirklich Lust auf Neues? Nehmt uns, da habt ihr, was ihr wollt. – Am anderen Ende der Bedeutungsskala flattert Spaßvogel Böhmermann zwischen den Gitterstäben des Käfigs, den Justitia mit luzider Beihilfe einer echten Kanzlerin um ihn legt, und wispert aufgeregt: War ich gut? Bin ich ein guter Despotenschänder? Säßen die Mächtigen sicherer, wenn sie mir keine Scherereien bereiten müssten? Und wie geht’s jetzt weiter?
Weiter geht’s. Dass jemand nach einer bestens in seiner Brust- oder Handtasche versteckten Moral handelt und dabei gern in Kauf nimmt, dass die Leute mit Fingern auf ihn zeigen und rufen: »Ist der verrückt?«, kommt, gängiger Ansicht zuwider, deutlich häufiger vor als das öffentlich gern gezeigte Kontrastprogramm, bei dem einer auf Wassern wandelt und die Leute rätseln lässt, wie lang die Stelzen wohl sein mögen, auf denen er sich bewegt, während die Kinder in die Hände klatschen und »mehr, mehr!« rufen. Anders gesprochen: Was ich nicht weiß, macht dich nicht heiß.
Das Zeitalter der digitalen Kommunikation fügt, als zweiten Hauptsatz der Überzeugungsdynamik, einen weiteren Spruch hinzu: Was ich nicht genau weiß, davon will ich alle Welt überzeugen. Das wiederum hilft der Endotugend, der Tugend, die im Verborgenen wächst und wuchert. Es lässt die Exotugend, die Tugend out of the box, die sich, im Dienst an der Menschheit, welche bekanntlich keine Dividenden zahlt, stets auf der Suche nach neuen Wasserläufern befindet, zu ihrem Erschrecken kümmerlich in der Landschaft herumstehen.
Die langen Moralstelzen des Herrn Obama haben ihn durch die trüben Gewässer seiner doppelten Präsidentschaft getragen und nun, da er sie wegzuwerfen gedenkt, ist keiner da, der sie auffangen möchte. Exo ist out. Stattdessen drängt die bisher verkannte Endotugend nach vorn und fragt: »Habe ich nicht Geld genug gemacht, um für den Job gerüstet zu sein? Bin ich nicht gut? Bin ich nicht dran –«
Von dieser Sorte laufen viele herum.
Insofern rechnet es sich, wenn die Leute die Kandidatin, den Kandidaten bereits aus anderen Fernsehserien intim zu kennen glauben, einem verjährten Ehedrama im Weißen Haus zum Beispiel oder einer endlosen reality show. Es rechnet sich sinnigerweise am besten, wenn die Fassunslosigkeit überwiegt: »Nein!« »Der nicht!« »Der nie!« Die Leute nehmen die Rolle des Komikers für die Person, die jetzt an die Schalthebel der Macht drängt, vor allem, wenn sie überzeugend gespielt wurde. Das ist ganz normal, es wird ja auch nicht die Rolle bewertet, sondern die Frisur und das Betragen und der Gesichtsausdruck und der Anzug und ob es brutal zugeht – vor allem letzteres.
»Wie geht’s Bill?« »Wann geht’s weiter?« So lauten die aktuellen Schicksalsfragen einer großen Nation. Die amerikanischen Wähler dürfen sich aussuchen, welche Form der Geldmacherei sie für präsidiabler halten, und das Ergebnis wird, wie stets, die Welt verändern. Nichts anderes begehrt sie, die sichtbare Welt, und wie die Dinge im Moment stehen, scheint sie das Handaufhalten der Clintons für ungefährlicher zu halten als den Handschlag unter Geschäftsleuten. Was man sich merken sollte. Noch ––
Einen Eindruck, der sich bei alledem aufdrängt, hat der bei Spiegel Online vom Netzflüsterer zum Wahlforscher aufgestiegene Sascha Lobo vor ein paar Tagen in die überaus einfachen Worte gefasst: »... das Eingeständnis, selbst nicht wirtschaftlich erfolgreich zu sein, fällt schwerer als einfach zu glauben, dem ganzen Land ginge es schlecht.« Wie wahr: leichter fällt es, an der Gestalt des Globus zu zweifeln als daran, dass bei einem selbst alles rund läuft. Der Wahlforscher nimmt an, er habe damit die von Donald Trump ausgebeutete Mentalität ökonomischer Versager beschrieben. Dabei übersieht er nur die Differenz zwischen zwei Formen des Potenz-Glaubens, denen zwei unterschiedliche Weisen des Wirtschaftens zur Hand gehen: »Bin ich gut? Bin ich wirklich gut?« Und: »Die Burschen tun nichts für mich. Bin ich so unattraktiv? Nun gut, mir nach!« Der erste fragt seine Frau, der zweite … den Gatten (vielleicht).
›Korruption‹ lautet das Thema dieses Wahlkampfes – besser, man lässt es nicht zu nahe an sich heran.
Welcher US-Amerikaner am Wahltag ›eher potent‹ oder ›eher impotent‹ mit Herrn Trump fühlen möchte, das sollte man klugerweise der angesprochenen Wählerschaft überlassen. Die verrutschte Deutungs-Potenz von Medien-Gockeln, die sich dieser Sprache zu angeblichen Analysezwecken bedienen, reizt das Nachdenken schon eher.
Nein, sie sind nicht erfolgreich, die Welt-und-Zeit-Deuter, ehrlich gesagt, es geht ihnen, ökonomisch gesprochen, an den Kragen – und prompt versinkt für sie die Welt im populistischen Chaos. ›Selbsternannte‹, wohin sie blicken, man fragt sich, wo die ganzen Ernennungs-Behörden herkommen sollten, die nötig wären, das letzte Meinungsfürzchen durch Pöstchen abzusegnen, das da als Teufelsstunk hinausposaunt wird.
Trompete, das einzige Instrument, wie es scheint, das sich derzeit Gehör verschafft, ist auf einen einzigen modus eingeschworen, die forcierte Mitteilung dessen, was  alles man neuerdings nicht sagen, denken, schreiben dürfen soll, ohne rot zu werden und in den Abgründen des Bösen zu versinken. Vom Erwischten verlangt man die Leichenblässe des zur Strecke gebrachten Königsmörders im voraus. Er gilt als Gefährder. Und erwischt muss werden, darauf läuft in der öffentlichen Kommunikation gegenwärtig alles hinaus. Nur der Erwischte wird sichtbar, also: Werdet sichtbar (um zu verschwinden).
»Abschuss!« müsste von Rechts wegen unter jeder Meinungsäußerung stehen, welche die Häuser der Geschmacks- und Urteilsveredler verlässt – nur dann hätte sie Meinung, also Gewicht, »Erwischt!« unter jedem Kommentar, den sie sich bei der Leserschaft einfängt, »Erwischt!« über und unter jedem Blogger-Eintrag, über und unter jedem Netzorgan, das sich ohne den wärmenden Beistand des mainstream zu Wort meldet. »Erwischt!« könnte man als Leser sich selbst ins Gedächtnis schreiben, sobald einen das vertraute Muster ein weiteres Mal aus der Lektüre angrinst, aber dann hätte man zu viel zu tun und könnte sie – die Lektüre – gleich unterlassen.
Zwischen Er- und Entwischen muss, nebenbei, der Unterschied nicht sehr groß sein. Manchen Partei-Apostel, das Drogen-Säckchen im Gepäck, lässt man entwischen, fast bevor er erwischt wurde, bei Randgängern der öffentlichen Meinung scheinen Er- und Entwischen in einen actus zusammenzufallen, ein Politiker fällt womöglich in sich zusammen, ehe er erwischt wird, und wird nicht mehr gehört. Selbst Minister bleiben nicht von diesem morbus verschont. Stille herrscht auch, wenn die Erwischten nachlegen, es sei denn, das Aufbegehren fällt ins vertraute Schema und gestattet der Zunft, den Jux noch ein wenig länger auszukosten.
Ausgesonderte, in Mediengewittern Abgehängte, an die Wand Genagelte, Vorgeführte, Durchklassifizierte, Eingesargte, Weg-Gehämte leben länger, vor allem im Ausland, sie dürfen dort ganze Länder regieren und Koalitionen schmieden wie der gern vorgeführte Herr Órban, bei dessen Erwähnung die Sprache der Berichterstattung sich auf ähnlich krampfhafte Weise verzerrt wie die Gesichtszüge des Herrn Trump in den Kameraaugen der Pressefotografen. Wehe den ›Selbsternannten‹! Sie leben in der Vorhölle, die dem Christentum so lange gute Dienste leistete, so lange ihm an der Ausbeutung des letzten Hoffnungsschimmers noch etwas lag. Im Zeichen des Bösen ist selbsternannt, wer auffällig wird.
Das gilt selbst dann, wenn er mit absoluter Mehrheit regiert. Der modus negativus charakterisiert die Zeit der beginnenden Morgenröte, der Sichtbarkeit dessen, was noch im Schatten liegt. Nach dieser Maßgabe fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, was über kurz oder lang als common sense der Mietschreiber auf die verwirrte Leserschaft einprasseln wird. Wer immer dann zu den Entwischten zählt, man kann darauf zählen, sein Gedächtnis wird ebenso kurz sein wie die Leine, an der seine Gedanken schon heute laufen.

Die Endotugend als – um einen Dichter aus dem letzten Jahrhundert zu zitieren – Phänotyp der Stunde hat ihrem Widerpart voraus, dass sie nicht scheitern kann, weil ohnehin alle von ihr das Schlimmste befürchten. Sie kann versagen, das ist wahr, aber wer kann das nicht? Versagen ist menschlich, Scheitern verheerend. Sollte zum Beispiel – aus westlicher Sicht – dem arabischen Frühling und seinen Ausläufern eine Strategie zugrunde gelegen haben, so ist sie gescheitert – mit überaus sicht- und spürbaren Folgen. Erstaunlich, dass jetzt jemand (H. Clinton) an die Hebel der Macht drängt, dessen Handschrift in diesem Prozess des Scheiterns wirkungsvoll zur Geltung kam. Sind solche Leute Versager? Sind sie Nutznießer ihres Versagens? Nach welchem Code mag ihr schreibender Anhang den Geschäftsmann, der der noch amtierenden Regierung schlechte Geschäfte vorwirft, zum Gottseibeiuns stempeln?

***
Was unterscheidet den ›selbsternannten Berufsrevolutionär‹ Lenin (o Sternstunde des berufsdeutschen Journalismus!) vom ›selbst ernannten‹ Staatskomiker Böhmermann? Beide kämpfen für das Gute: Da liegt er, der Unterschied, und keiner hebt ihn auf.